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0924 - Das Totenbuch

0924 - Das Totenbuch

Titel: 0924 - Das Totenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
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nicht.
    Ich hatte die Taschenlampe gesenkt und unter den Tisch geleuchtet. Etwas kroch plötzlich über meinen Rücken wie ein Tier mit Eisbeinen, denn auf dem Boden lag ein Mensch, der sich nicht bewegte. Er hatte seinen Arm in die Höhe gereckt und es noch geschafft, die Hand über die Tischkante hinweg auf den schwarzen Einband des Buchs zu legen, und all dies wirkte wie ein Happening des Grauens.
    Vorsichtig ging ich weiter. Ein Feind lauerte nicht in der Nähe. Ich drehte die Lampe, strahlte in die Ecken, tötete damit die Schatten, aber es war niemand zu entdecken.
    Dann hatte ich den Tisch umrundet und blieb an der anderen Seite stehen. Zwischen Stuhl und Tisch lag der Mann. Er trug einen grauen Kittel oder eine graue Kleidung. Den Arm hatte er tatsächlich in die Höhe gereckt, als wollte er das Buch vor einem Dieb beschützen.
    Ich blieb weiterhin dicht neben ihm stehen und leuchtete ihn an. Erst jetzt sah ich das Blut.
    Es war aus einer Wunde geflossen, die sich zwischen Hals und Brust befand. Dort hinein mußte jemand das Messer gestoßen haben, um den Mann umzubringen.
    Jetzt fiel mich auch das Summen der Fliegen auf, die den Kopf des Mannes umkreisten. Ich scheuchte die fetten, grünlich schillernden Insekten weg, als ich mich kniete, um den Toten genauer zu untersuchten. Dabei leuchtete ich sein Gesicht an, dessen Haut so bleich war, trotz der auf ihr liegenden Staubschicht.
    Das Blut war aus der Kehle gequollen und roch widerlich. Ich konzentrierte mich auf das Gesicht.
    Es gehörte einem älteren Menschen. Hagere Wangen, graues, dünnes Haar, blasse Lippen, ein spitzes Kinn und leicht verdrehte Augen, die sich plötzlich bewegten.
    Was?
    Ja, sie hatten gezuckt, und plötzlich wußte ich, daß der Mann vor mir noch lebte. Er hatte diese verdammte Wunde überstanden, und er hatte mich auch bemerkt. Er bewegte seinen Arm, dessen Hand vom Buch abrutschte und schwer auf meine Schulter fiel, wo sich die Finger festkrallten, als wollte sich der Alte in die Höhe ziehen.
    »Ist okay«, sagte ich. »Ich werde Sie zu einem Arzt bringen, dann kommen Sie wieder auf die Beine.«
    »Bist du der Todesschatten?«
    »Bitte?«
    »Bist du der Todesschatten?« röchelte er. Jedes der Worte war nur schwer zu verstehen.
    »Nein, das bin ich nicht. Ich will dir helfen.«
    »Keiner - keiner - helfen…«
    »Doch, aber…«
    »Das Buch«, flüsterte er. »Das Buch…«
    Ich wußte ja, daß damit etwas nicht stimmte und fragte ihn auch danach. »Was ist mit dem Buch?«
    »Nimm - nimm es…«
    Ich schaute auf den Tisch, wo die bleiche Hand noch immer auf dem Buch lag. »Gut, ich werde es nehmen. Aber was geschieht, wenn ich es genommen habe?«
    Er konnte noch nicht reden und keuchte wieder. Dabei erschien Blut auf seinen Lippen. Es schimmerte wie roter Lack. »Es ist wichtig, sehr wichtig.«
    »Das glaube ich gern. Warum ist es so wichtig? Was steht in diesem Buch geschrieben?«
    »Ich, ich - habe es gelesen. Es ist das Totenbuch. Der Todesschatten, der Begleiter und Helfer, der Sterbehelfer. Es darf nicht in andere Hände gelangen! Du mußt es an dich nehmen! Darum kann ich dich nur bitten. Es ist so wichtig, nicht nur für mich, auch für die anderen Menschen. Es ist fast ein Wunder, daß du mich überhaupt gefunden hast, Freund. Das hätte nicht jeder geschafft.«
    Er schwieg wieder. Ich hatte mich auf das Gesicht konzentriert. Es zeigte einen Ausdruck, der mir nicht unbekannt war. Zwar war diese kalkige Blässe geblieben, zugleich aber war sie von einem Schatten überdeckt worden. Mehr zu ahnen als zu sehen, denn für mich war es bereits der Schatten des Todes. Daß dieser für mich namenlose Mensch überhaupt noch lebte, glich einem kleinen Wunder. Er hatte mir das noch mitgeteilt, wozu er in der Lage gewesen war, aber ich wollte noch etwas von ihm wissen und setzte eine letzte Frage nach.
    »Was ist mit dem Schatten? Du hast von ihm gesprochen…«
    »Ja.« Die Antwort war kaum zu verstehen, da sie in einem Röcheln unterging.
    »Bitte…«
    »Schatten ist wichtig.« Die Worte drangen jetzt stockend über seine Lippen. Die Haut um die Mundwinkel herum zuckte. »Sehr wichtig. Er ist ein Täuscher. Er lügt. Er begleitet die Menschen, die nicht mehr leben wollen. Im Totenbuch steht alles und…« Er schaffte die nächsten Worte nicht mehr, denn der Tod war schneller. Es kam mir vor, als hätte er mit einer unsichtbaren Würgehand zugepackt. Der Mann röchelte ein letztes Mal auf, dann sackte er zusammen, und wie zum Zeichen

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