093 - Der Geist im Totenbrunnen
Verbindung miteinander zu bringen und unter Kontrolle zu halten. Sie betraten den Raum, in dem die Gemälde hingen. Cochran stoppte so abrupt, daß der hinter ihm gehende Inspektor gegen ihn stieß. Auch Leroy blieb stehen.
„Das Bild ist doch da“, stellte er fest. „Unbeschädigt, soweit ich das erkennen kann…“
Jameson starrte ungläubig auf das Gemälde, mit runden Augen und offenem Mund. Cochran sah noch verblüffter aus, geradezu töricht.
Der Inspektor gab sich einen Ruck. Er trat vor, tastete über das Bild, schüttelte den Kopf und wandte sich an Cochran: „Verstehst du das?“
„Nein.“
Jameson drehte sich um. „Ich begreife das nicht. Ich könnte jetzt sagen, der Dieb hat es mit der Angst zu tun bekommen und das Gemälde zurückgebracht, aber…“
„Aber?“ fragte Leroy.
Der Inspektor zog ein Taschentuch aus seiner Hose. Er tupfte sich damit die schweißfeuchte Stirn ab. „Ich habe mir den Schaden ja angesehen, nachdem mir der Diebstahl gemeldet worden war. Ich hatte den Eindruck, daß man die Leinwand mit einem scharfen Messer aus dem Rahmen geschnitten hatte. Aber jetzt ist nichts von einer Beschädigung zu erkennen, nichts, absolut nichts!“
„Das ist Ihr Problem“, sagte Chester. „Ich nehme an, ich kann gehen.“
„Ja“, stotterte der Inspektor. „Es tut mir leid, daß ich Sie verdächtigt habe.“ Er schüttelte den Kopf. „Wenn diese Geschichte die Runde macht, werden ein paar Dummköpfe, die Marhill Place für eine Brutstätte von Geistern und Dämonen halten, frohlocken!“
Leroy verabschiedete sich und ging.
Er wußte nicht so recht, was er von dem rätselhaften Vorfall halten sollte und gab sich keine Mühe, ihn zu verstehen. Schließlich existierten für ihn sehr viel größere Probleme und Rätsel als das des verschwundenen und wieder aufgetauchten Bildes von W. Carinius.
Er dachte an Daphne und Harry und blieb mitten auf dem Marktplatz stehen. In diesem Moment wurde ihm bewußt, welche Aufgabe er als Wilson Carrington in Hillory Village übernehmen sollte.
Er war hier, um zu töten, um sich an Daphne und Harry zu rächen.
Daphne schrie.
Sie setzte sich jäh im Bett auf, spürte das wilde Hämmern ihres Herzens und brauchte Sekunden, um sich darüber klarzuwerden, wo sie war.
Seltsamerweise bezog sie aus der Erkenntnis, in der Geborgenheit ihres Bettes und ihres Zimmers zu sein, weder Trost noch Beruhigung. Sie wußte nicht, wie spät es war. Das Fenster stand offen und der Wind bauschte träge die weißen Mullgardinen. Daphne zitterte. Sie starrte auf die Vorhänge und wunderte sich, daß sie keinerlei Geräusch verursachten. Wenn Wind herrschte, mußte doch ein Rauschen und Raunen in den Bäumen und Büschen zu vernehmen sein! Aber draußen war es still, geradezu totenstill…
Daphne sah, daß in dem Zimmer ein seltsames, diffuses Licht herrschte, fast so, als käme der schwache, merkwürdige Schein aus indirekten Quellen.
Mondlicht, beruhigte sie sich. Alles ist ganz normal. Du siehst Gespenster, du fürchtest dich vor dem Nichts!
Aber das Hämmern ihres Herzens und der Würgegriff der Angst hielten an. Daphne hatte Mühe, den Schlaf abzuschütteln. Hatte sie schlecht geträumt?
Ihre Hand tastete wie schutzsuchend nach rechts, ganz unbewußt. Dort hatte noch bis vor wenigen Tagen ihr Mann Leroy gelegen. Ihre Finger berührten kühles Linnen, sonst nichts. Sie zog die Hand zurück.
Plötzlich war sie überzeugt davon, daß jemand im Zimmer war. Sie starrte in die Ecken, in denen die Schatten nisteten. Sie würde schreien, wenn sie etwas Fremdes entdeckte. Aber würde ihr Schrei auch gehört werden?
Sie war allein.
Allein in einem uralten Haus, dessen Gänge, Kammern, Zimmer und Keller sie wie mit drohenden Fangarmen zu erdrücken schienen.
Daphne bekam einen trockenen Mund. Du mußt etwas tun, irgend etwas, hämmerte sie sich ein. Steh auf und besorge dir aus der Küche etwas zu trinken, schüttle diese dumme, unerklärliche Lähmung ab…
Sie hielt sich für eine realistische, junge Frau, die keine Furcht kannte und über Gespenstergeschichten nur lachen konnte. Aber in diesem Moment spürte sie, daß nur Erfahrungswerte zählten, die unter der unerklärlichen Dramatik augenblicklichen Erlebens Gewicht erhielten.
„Ist da jemand?“ hörte sie sich fragen.
Was war aus ihrer modulationsfähigen, dunklen Stimme geworden? Ein ängstliches, bebendes Krächzen.
Niemand antwortete.
Daphne versuchte, ihre Angst abzuschütteln, aber
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