Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
093 - Der Geist im Totenbrunnen

093 - Der Geist im Totenbrunnen

Titel: 093 - Der Geist im Totenbrunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cedric Balmore
Vom Netzwerk:
Grundstück von der Nordseite her.
    Dort gab es eine kleine Holzpforte, die zum nahen, fischreichen Bach führte. Er hatte sie erst kürzlich geölt, weil ihr Knarren ihm auf die Nerven gefallen war.
    Seine genaue Ortskenntnis erlaubte es ihm, unbemerkt bis in die Nähe des Hauses vorzudringen. Bäume und Büsche boten ihm Schutz und Deckung. Er legte eine kurze Pause ein, als er den sogenannten Totenbrunnen erreichte, die kreisrunde, aus schweren Quadern zusammengefügte Einfassung eines stillgelegten, uralten Brunnens.
    Er setzte sich auf die kühlen Steine und fragte sich, ob die vielen Legenden stimmen mochten, die sich um diesen Brunnen rankten.
    Es hieß, daß er keinen Grund habe, von endloser Tiefe sei und die Skelette vieler Menschen berge. Niemand hatte sich bis jetzt die Mühe genommen, diese Märchen zu überprüfen. Vielleicht stimmte es tatsächlich, daß im Mittelalter, in einer harten, grausamen Zeit, Menschen in den Brunnen gestürzt worden waren, und vielleicht war es der Respekt vor ihrer Totenruhe, der eine Nachprüfung der Behauptungen unterbunden hatte.
    Leroy warf einen Blick über die Schulter. Die Brunnenöffnung war mit alten, morschen Brettern abgedeckt. Zwischen den Löchern und Ritzen stieg ein intensiver Modergeruch herauf, eine eisige Kühle, die plötzlich einen Frostschauer über seine Haut jagte.
    Früher hatte er dazu geneigt, alte Legenden mit einem Lächeln abzutun, aber seine Wiedergeburt als Wilson Carrington ließ ihn die Dinge in einem anderen Licht sehen.
    Der Totenbrunnen…
    Er blickte noch immer auf die alten Holzbohlen und sah plötzlich einen Blutfleck, mehr als daumengroß.
    Er machte den Eindruck, als sei er nur wenige Tage alt.
    Leroy biß sich auf die Unterlippe. In seinem Unterbewußtsein meldeten sich vage Verdächtigungen und Vermutungen, aber er hatte keine Lust, ihnen nachzugehen. Er mußte einen Weg finden, um in das Haus einzudringen, er mußte Daphne und Harry belauschen.
    Er erhob sich, warf einen letzten Blick auf das blutige Mal, dachte an seine Schläfenwunde und bewegte sich behutsam auf das Haus zu. Es war im Grunde nicht sehr schwer, über einen Seitenbalkon einzudringen; er hatte das schon einmal probiert, als sie von einer Stadtfahrt zurückgekommen waren und feststellten, daß ihnen der Hausschlüssel unterwegs verlorengegangen war.
    Leroy erreichte den Balkon ohne Mühe und drückte die Tür auf. Er stand in einem der Gästezimmer. Während er sich auf Zehenspitzen durch den Raum bewegte, fragte er sich, was er tun oder sagen sollte, wenn man ihn ertappen sollte.
    Einbrecher im eigenen Haus! Er hätte darüber lachen mögen, wenn das Geschehen nicht von der Tragik seines einmaligen Erlebens überschattet worden wäre. Daphne und Harry…
    Er hörte sie sprechen. Sie befanden sich im Wohnzimmer. Daphnes Stimme hörte sich gereizt an, nervös. „Er ist ein Schnüffler, ich sage es dir!“
    „Du spinnst“, erwiderte Harry. „Es gibt auf der ganzen Welt keinen alten Landsitz, der nicht gelegentlich von sogenannten Ahnenforschern überfallen würde…“
    „Der Mann ist mir unheimlich. Er sieht wirklich aus wie der Bursche auf dem Porträt, wie Carinius.“
    „Das redest du dir ein. Nach allem, was geschehen ist, sind deine Nerven etwas angegriffen.“
    „Ist das ein Wunder?“
    Leroy setzte seinen Weg fort, obwohl er jetzt jedes Wort verstehen konnte. Gleich neben der alten Standuhr in der Diele befand sich eine Tapetentür; dahinter wurden in einer großen Besenkammer die Reinigungsutensilien aufbewahrt. Es war nicht anzunehmen, daß Daphne, gerade vom Begräbnis zurückgekehrt und offenbar aufgewühlt vom Besuch des Fremden, in den nächsten Stunden an den Hausputz denken würde.
    „Ich verstehe dich nicht, Liebling. Du warst so fabelhaft ruhig, als wir aufs Ganze gingen – und jetzt zeigst du plötzlich Nerven“, meinte Harry.
    „Schon gut, das wird sich legen“, seufzte Daphne. Leroy hatte die Tapetentür erreicht. Er streckte die Hand aus, um sie zu öffnen und erstarrte plötzlich, als er das leise, quietschende Geräusch vernahm, das mit dem Ende seines Erinnerungsvermögens zusammenfiel. Es war der gleiche seltsame Laut, den er auf der Terrasse vernommen hatte.
    Chester konnte sich nicht bezähmen. Er blickte um die Ecke, durch den, Rundbogen, der als Wohnzimmerzugang diente. Daphne saß in einem Sessel und kehrte ihm den Rücken zu. Harry hatte den Gewehrschrank geöffnet. Er nahm eine der alten Büchsen heraus und musterte sie

Weitere Kostenlose Bücher