093 - Der Geist im Totenbrunnen
ziemlich fassungslos hervor.
Inspektor Jameson zuckte mit den Schultern. „Von ein paar Leuten“, meinte er vieldeutig, „denen am Verschwinden des Toten gelegen sein muß.“
„Warum nennen Sie keine Namen?“
„Dazu bin ich nicht befugt, aber ich möchte Sie fragen, ob zwischen Dr. O’Neill und Ihnen – äh – intime Beziehungen bestehen oder bestanden haben.“
„Darauf wollen Sie also hinaus!“
„Ich tue nur meine Pflicht“, entschuldigte sich der Inspektor. „Was haben Sie mir zu antworten?“
„Sie wollen Harry und mir einen Mord anhängen, nicht wahr? Das ist doch absurd!“
„Wenn es wirklich absurd sein sollte, wird es sich rasch herausstellen“, meinte er. „Aber Sie schulden mir noch eine Antwort auf meine Frage.“
„Harry war ein Freund meines Mannes und mir, der einzige, den wir in Hillory Village besaßen, der einzige, den ich jetzt noch habe. Ich streite nicht ab, daß er mir gefällt und daß wir gelegentlich zusammen flirteten – aber von einer intimen Beziehung konnte und kann dabei nicht die Rede sein.“
Es fiel ihr leicht, den Inspektor anzulügen, aber sie begriff, daß er keineswegs so naiv und ungefährlich war, wie er ihr anfangs erschienen war. Er befand sich mit seinen Spekulationen über Carringtons Aufgaben zwar auf dem Holzweg, aber alles in allem stimmte die Zielrichtung seiner Verdächtigungen und es war zu befürchten, daß er nicht eher lockerlassen würde, bis sich für seine vagen Vermutungen konkrete Beweise gefunden hatten.
Jameson erhob sich. Daphne brachte ihn zur Tür. Der Inspektor äußerte ein paar banale Phrasen, die den Eindruck seiner penetranten Verdächtigungen zerstreuen sollten. Dann verabschiedete er sich und ging.
Daphne war nach seinem Besuch weniger erregt, als es die sich rasch verschlimmernde Lage verständlich gemacht hätte. Sie ging ihrer Hausarbeit nach, verzichtete jedoch darauf, zum Einkaufen nach Hillory Village zu fahren. Sie fand den Gedanken, sich begaffen und befragen zu lassen, schlechthin unerträglich.
Die junge Witwe wußte, wie beliebt sie war, aber sie machte sich keine Illusionen darüber, wie schnell die Leute diese Sympathie in Zweifel und Verleumdungen ummünzen konnten. Sie machte den Bürgern des kleinen Ortes keinen Vorwurf, denn sie hatte diese Entwicklung schließlich gefördert.
Zum Glück war ihre Tiefkühltruhe gut gefüllt, so daß sie sich wegen ihrer Mahlzeiten keine Sorgen zu machen brauchte. Sie ging in den Kellerraum, wo die Truhe stand, und öffnete den schweren Deckel.
Im nächsten Moment prallte sie entsetzt zurück. Ein Schrei entrang sich ihren Lippen, und sie hatte Mühe, nicht zusammenzubrechen und gegen die zunehmende Schwäche in ihren Knien anzukämpfen.
In der Truhe lag Leroy Chester.
Sie sah die weit offenen, starren Augen des Toten, die schon stark eingefallenen, wie transparent wirkenden Gesichtszüge und die schreckliche Schläfenwunde mit der breiten, verkrusteten Blutspur. „Leroy!“ keuchte sie und prallte mit dem Rücken gegen die feuchte Wand.
Sie verstand das Ganze nicht. Das Zwiegespräch der letzten Nacht hatte sie glauben lassen, daß Leroy ihr verziehen hatte, aber mit dieser neuerlichen Tortur machte er klar, daß er immer noch die Absicht hatte, sich zu rächen. Er wollte ihr Ende!
Wollte Leroy sie durch fortgesetzte Schockerlebnisse und quälenden Psychoterror umbringen?
Daphne holte tief Luft. Sie stieß sich von der Wand ab und schlug den Deckel der Tiefkühltruhe zu. Sie begann wild zu schluchzen, aber der Tränenstrom brachte ihr keine Erleichterung. Sie verließ den Keller. Auf dem Weg ins Wohnzimmer überkam sie ein neuer Verdacht.
Steckte etwa Harry hinter dem Anschlag?
Hatte er sie belogen und Leroys Leiche nicht in den Brunnen geworfen, sondern in die Truhe gelegt, in der Hoffnung, daß der Anblick des Toten sie vernichten würde?
Wenn es stimmte, was Harry ihr berichtet hatte, wollte Leroy ihren Geliebten dazu bringen, daß er sie tötete.
Vielleicht bereitete Harry schon ihr Ende vor. Möglicherweise hoffte er, das mit einer Serie von Schockerlebnissen herbeiführen zu können.
Als Daphne in der Küche stand, fiel ihr ein, daß Sonntag war und sie gar nicht imstande gewesen wäre, im Ort einzukaufen.
Sie schlug sich zwei Eier in die Pfanne, hatte aber danach weder Lust noch Appetit, sie zu verzehren.
Als es klingelte, war sie geradezu erleichtert. Ihr war jede Abwechslung recht, selbst dann, wenn sich herausstellen sollte,
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