093 - Der Geist im Totenbrunnen
und mich mit sich ins Verderben reißen…
„Du fährst wie ein Wahnsinniger“, stellte sie fest.
„Ich bin wahnsinnig“, gestand er. „Ich fange an, durchzudrehen.“
„Wir dürfen nicht die Nerven verlieren, Harry!“
Er verlangsamte das Tempo. „Ich sah ihn so, wie er dir gegenübergetreten ist“, sagte er, ohne Daphne anzuschauen. „Mit dieser scheußlichen Schläfenwunde …“ Er schüttelte sich, dann fuhr er fort: „Er verlangte von mir, daß ich dich töte. Er sagte, ich wäre dann frei von jeder Verfolgung durch ihn und die anderen.“
„Durch welche anderen?“
„Er nannte keine Namen, aber es ist doch wohl klar, daß es sich nur um Carinius gehandelt haben kann.“
„Was haben wir mit Carinius zu tun?“
„Das ist mir nach längerem Nachdenken jetzt klar geworden. Carinius ist der Herr des Totenbrunnens.“
Harry ist wirklich verrückt geworden, entsetzte sich Daphne. Aber dann wurde ihr klar, daß Harry lediglich versuchte, aus den Ereignissen eine annähernd logische Erklärung zu konstruieren – soweit es überhaupt möglich war, übersinnliche Dinge mit Logik zu erfassen.
„Du erinnerst dich, nicht wahr?“ fragte Harry. „Wir haben Leroys Leiche ein paar Stunden lang in den Brunnen gelegt, auf den Mauervorsprung gleich unterhalb der Abdeckung. Diese kurze Zeit muß Carinius genügt haben, um den Toten auf seine Weise zu vereinnahmen.“
„Vielleicht hast du recht“, sagte Daphne kaum hörbar. Sie fuhren jetzt mitten durch den Ort. Um diese Zeit waren nur wenige Leute auf der Straße. Einige blieben stehen, als sie den Wagen des Doktors mit seinem Besitzer am Steuer und Daphne auf dem Beifahrersitz sahen. Natürlich hatte die Nachricht von der Grabesöffnung und der verschwundenen Leiche die Runde gemacht, und Daphnes Rückkehr lieferte genügend Stoff für Neugier, Spekulationen und giftigen Klatsch.
„Nach der Legende wurde Carinius das Opfer einer Familientragödie. Er war ein Mann, der von Frau und Kindern aus dem Weg geräumt wurde, und der jetzt folgerichtig alle zu bekämpfen scheint, die sich ähnlich verhalten.“
„Spekulationen!“
„Ich weiß. Aber hast du eine bessere Erklärung für das Geschehen?“ fragte sie.
„Ich habe aufgehört, darüber nachzudenken“, sagte er. „Mehr noch. Ich verdränge das Ganze, um nicht noch total verrückt zu werden.“
„Mit anderen Worten“, sagte Daphne bitter, „du bereust, mich überhaupt kennengelernt zu haben.“
„Nein“, sagte er. „Das nicht.“
Sie schaute ihn an. Seinem blassen, zerquälten Gesicht war nicht zu entnehmen, ob er sie aus reiner Höflichkeit anlog, oder ob er die Wahrheit sagte.
„Was hast du Leroy geantwortet?“
„Nichts. Mir war die Kehle wie zugeschnürt. Als ich schließlich reden wollte, war er verschwunden. Er hatte sich buchstäblich in ein Nichts aufgelöst.“
„Kann es nicht sein, daß du das Ganze nur geträumt hast?“
„Ja, es wäre möglich“, sagte er zögernd. Es war zu merken, daß er ihr mit diesen Worten entgegenzukommen versuchte, obwohl er persönlich von Leroys Besuch felsenfest überzeugt war.
„Hat er… hat er bestimmte Vorschläge gemacht?“ wollte Daphne wissen.
„Nein. Er sagte nur, daß ich dich töten soll.“
„Wie soll es weitergehen, Harry?“
„Ich nehme eine Woche Urlaub. Ich suche in London ein paar Leute auf, die im Umgang mit Geistern Erfahrung haben“, sagte er. „Es gibt da gewisse Zirkel und Gruppen, von denen ich mir Hilfe verspreche.“
„Du kannst ihnen nicht gut eröffnen, worauf unsere Sorgen basieren.“
„Keine Angst, ich habe nicht vor, ihnen ein Mordgeständnis zu liefern. Ich will nur in Erfahrung bringen, welche Möglichkeiten es gibt, Besucher aus dem Jenseits unter Kontrolle zu bringen.“
„Was ist mit Carrington? Haben die Untersuchungen über sein Verschwinden Fortschritte gemacht?“
„Niemand spricht mehr über ihn“, sagte Harry. „Die sensationelle Entdeckung des leeren Sarges überschattet alles andere.“
„Welche Erklärung hat man dafür?“
Sie hatten die letzten Häuser von Hillory Village erreicht und näherten sich der offenen, nach Marhill Place führenden Landstraße. „Man verdächtigt mich“, sagte Harry, dessen Backenknochen deutlich hervortraten.
„Dich? Warum denn dich, um Himmels willen?“
„Man glaubt, ich sei dein Liebhaber und hätte dich nach London geschickt, damit du ein Alibi hast. Man vermutet, daß ich in dieser Zeit den Toten nachts aus seinem Grab geholt
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