093 - Der Geist im Totenbrunnen
daß sie neue Gefahren und Ängste brachte.
Harry O’Neill stand vor der Tür, im dunkelblauen Anzug, mit gestreifter Krawatte – in seiner typischen Sonntagsaufmachung. „Mein Besuch ist gegen die Absprache, ich weiß“, entschuldigte er sich und trat über die Schwelle, „aber ich mußte dich einfach wiedersehen. Ich konnte in dieser Nacht kein Auge schließen. Immer wieder mußte ich an dich denken, an unser gestriges Zusammentreffen. Es war so spröde, so sonderbar, als wären wir uns völlig fremd geworden. Das darf nicht sein, Daphne, um keinen Preis…“
Sie setzten sich auf die Terrasse. Daphne saß so, daß sie den Totenbrunnen am Ende des Gartens sehen konnte. Er übte auf sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, und sie hatte plötzlich den Wunsch, für immer in seine kühle Tiefe einzutauchen.
Harry hatte sie auch diesmal nicht geküßt. Es schien, als fühlte er, daß sie nicht bereit war, sich von ihm in die Arme nehmen zu lassen.
„Warum hast du das getan?“ fragte sie ihn.
„Was getan?“
„Leroy in die Tiefkühltruhe gelegt!“
Er blinzelte kaum merklich. Daphne kannte ihn gut genug, um zu wissen, was das bedeutete. Er war unsicher, er fühlte sich ertappt. „Das ist doch wohl nicht dein Ernst?“ verteidigte er sich. „Ich habe den Toten in den Brunnen geworfen, genau wie ich es dir sagte!“
„Ich kann nicht mehr, ich bin am Ende“, murmelte sie und blickte an ihm vorbei ins Leere. Sie war davon überzeugt, daß Harry sie belog und fragte sich, wie diese Tragödie ihres Lebens enden sollte.
„Du mußt stark bleiben, Daphne“, beschwor er sie.
„Ich verreise!“ erklärte sie und lächelte, als hätte sie plötzlich einen Ausweg aus ihrer Misere gefunden.
„Wohin?“
„Irgendwohin“, erwiderte sie. „Am besten ins Ausland, weit weg von Marhill Place, an einen Ort, wo es weder Spuk noch Geister gibt.“
„Damit würdest du dich nur verdächtig machen, das würde nach Flucht aussehen.“
„Es ist eine Flucht“, erklärte sie und schaute ihn fest an. „Ich mache mir nichts vor. Was die anderen denken, spielt keine Rolle. Wir stehen sowieso unter Mordverdacht.“
„Was wird mit dem Geld?“
„Ich pfeife darauf, ich will es nicht.“
Er starrte sie an. „Als wir das Ganze planten, hast du anders gesprochen.“
„Ich muß verrückt gewesen sein“, meinte sie. „Als ob mich Leroys Geld glücklich machen könnte!“
„Wir wollten eine Weltreise machen und glücklich werden“, erinnerte er sie.
„Ich mache diese Reise allein – und vom Glück wage ich schon nicht mehr zu sprechen.“
„Eine Reise ohne Geld?“
„Wenn ich meinen Schmuck verkaufe, kann ich von dem Erlös mindestens ein oder zwei Jahre lang leben. Du weißt, wie großzügig Leroy mir gegenüber war.“
„Du bist so verändert, ganz anders als sonst“, meinte er betroffen.
„Ich muß Jameson anrufen“, sagte sie plötzlich.
„Was willst du ihm sagen?“
„Ich muß ihm mitteilen, daß ich Leroys Leiche in der Tiefkühltruhe gefunden habe.“
Zwischen Harrys Augen bildete sich eine tiefe Stirnfalte. „Das ist hoffentlich nicht dein Ernst. Wenn er käme, wäre Leroy entweder verschwunden oder wir gerieten in den Verdacht, ihn dort deponiert zu haben. Die Polizei glaubt nicht an Gespenster. Sie würde hinter dem Leichenfund ein Verbrechen sehen und sich dementsprechend verhalten.“
„Was würdest du tun, wenn ich plötzlich zusammenbräche und alles gestände?“
„Ich würde alles abstreiten“, sagte er.
„Mit anderen Worten – du würdest mich allein lassen?“
„Ja“, sagte er hart. „Du mußt das jetzt wissen, für alle Fälle. Ich habe mich nicht in das Verbrechen verwickeln lassen, um an ihm zu scheitern. Wenn ich gewußt hätte, wie schwach deine Nerven sind, wäre es niemals zu dem Mord gekommen.“
„Wir sind uns auf einmal ganz fremd geworden“, stellte Daphne fest.
„Das liegt nur an dir!“ sagte er wütend und stand auf. „Ich fahre jetzt nach Hause und besorge dir ein Beruhigungsmittel. Versprich mir, daß du den Inspektor nicht anrufen wirst, das wäre glatter Selbstmord!“
Daphne nickte. Sie war froh, als Harry gegangen war. Der Gedanke an Leroy ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Sie erwog, noch einmal in den Keller zu gehen, um mit dem Toten sprechen zu können, aber eine innere Stimme sagte ihr, daß dies nicht möglich sein würde. Er war kein Gesprächspartner mehr. Der Mann, den sie suchte und wiederzufinden hoffte, hatte nichts mit
Weitere Kostenlose Bücher