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093 - Der Geist im Totenbrunnen

093 - Der Geist im Totenbrunnen

Titel: 093 - Der Geist im Totenbrunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cedric Balmore
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es dunkel, aber das aus dem Zimmer fallende Licht ließ eine Gestalt auf der Treppe erkennbar werden.
    „Wer ist da?“ rief sie mit bebender Stimme.
    Der Schatten bewegte sich, kam langsam näher und nahm feste Konturen an. Im hellen Lichtkegel stand ein Mann. „Harry!“ rief Daphne überrascht aus.
    Plötzlich hatte sie Angst vor ihm. Sie wich in das Zimmer zurück, bis an die Wand. Harry folgte ihr langsam, leicht geduckt, als kostete es ihn Mühe, sich zu bewegen. Daphne sah, daß er dünne Lederhandschuhe trug. Mit einem Schlag wußte sie, was das zu bedeuten hatte.
    Harry war gekommen, um sie zu töten.
    „Nein!“ hauchte sie.
    Harry blieb stehen. Seine Mundwinkel zuckten. Sein Gesicht war blaß und zerquält, aber es drückte auch düstere Entschlossenheit aus.
    „Es muß sein“, sagte er.
    „Was hast du vor?“ flüsterte sie, obwohl ihr längst klar war, was er wollte.
    „Ich bringe dich zu ihm“, sagte er. „Zu Leroy.“
    Sie erschauerte. „In die Tiefkühltruhe?“
    „Damit wollte ich dich fertigmachen“, sagte er. „Ich hoffte, daß dich der Schlag treffen würde – aber du bistzäher, als ich es erwartete.“
    Fassungslos starrte Daphne dem Geliebten ins Gesicht. War das wirklich der Mann, den sie geliebt hatte? War dies der Mann, dem sie erlaubt hatte, Leroy zu töten?
    Ekel und Furcht würgten sie, sie hatte plötzlich Mühe, zu atmen.
    „Nicht in die Tiefkühltruhe“, sagte er. „Ich werfe dich zu ihm in den Brunnen.“
    „Warum, warum?“ schrie sie.
    „Du liebst ihn noch immer, ich habe das längst begriffen“, sagte er kalt.
    „Darum willst du mich töten?“
    „Nein, du bist zu einer Gefahr für mich geworden. Du hast die Nerven verloren, sprichst davon, alles zu gestehen. Ich habe keine Lust, von und mit dir in den Untergang gerissen zu werden. Deshalb mußt du sterben. Es ist reiner Selbsterhaltungstrieb.“
    „Du hast mich niemals geliebt!“
    „Ich war verrückt nach dir, einfach verrückt!“ widersprach er.
    „Verrücktheit ist keine Liebe.“
    „Bei dir war es nicht anders.“
    „Ja, du hast recht“, nickte sie. „Wir haben uns in diesen Rausch hineingesteigert, wir sind zu Verbrechern geworden – und nun gibt es dieses grausame Erwachen!“
    „Ich werde damit fertig, du nicht“, sagte Harry zynisch. „Das ist der Unterschied.“
    „Laß uns noch einmal von vorn beginnen“, murmelte sie, ohne ernsthaft zu meinen, was sie sagte. Es war alles sinnlos geworden. Die Brücke zwischen dem Geliebten und ihr war weggerissen. Sie hatte niemals eine Chance gehabt, der ersten heftigen Flut zu trotzen.
    „Es hat keinen Zweck“, sagte er.
    „Dieser Mord wird dich zugrunde richten“, erklärte Daphne und hob das Kinn. „Wenn du als einziger das Drama überlebst, muß der Tatverdacht zwangsläufig an dir hängenbleiben, dann wird man dich für alles und jedes verantwortlich machen, was hier geschah.“
    „Keine Angst, ich habe das richtige Rezept gefunden“, höhnte er.
    „Du machst mich neugierig!“
    „Wie ich bereits sagte, habe ich vor, dich in den Brunnen zu werfen. Dort wird man dich finden. Eine Frau im Nachthemd. Eine Verzweifelte, die sich nachts, von Schuldgefühlen getrieben, aus dem Bett erhob und zum Totenbrunnen ging. Sie wollte sühnen und sich auf diese Weise der irdischen Gerechtigkeit entziehen.“
    „Das kauft dir niemand ab!“
    „Möglich, doch niemand wird mir den Mord nachweisen können!“
    „Du vergißt, bis jetzt sind alle aus dem Totenbrunnen zurückgekehrt“, sagte sie. „Carinius, Leroy…“
    Harry sah verdutzt aus. Der zerquälte Ausdruck in seinem Gesicht nahm zu. Dann sagte er: „Ich fürchte mich nicht vor Geistern, aber ich habe Angst vor der Justiz. Mir bleibt einfach keine andere Wahl! Du hast mich zu diesem Tun gezwungen!“
    Harry gab sich einen Ruck. Daphne wollte vor ihm fliehen, aber dann resignierte sie. Plötzlich schien ihr, als seien die Ereignisse auf wundersame Weise vorprogrammiert. Was immer auch geschah: sie befand sich auf dem Weg zu Leroy.
    Nur das zählte, nichts sonst!
    Sie lächelte. „Es ist schon in Ordnung, Harry“, sagte sie. „Du tust mir leid.“
    Er blieb verwirrt stehen und fragte sich, ob Daphne endgültig den Verstand verloren hatte. Er wollte etwas sagen, drängte die Worte jedoch zurück. Es war zwecklos, die Unterhaltung fortzusetzen. Er mußte endlich handeln.
    Harry trat auf Daphne zu und streifte ihr den Morgenmantel ab. Sie wehrte sich nicht. Sie unternahm auch nichts, als er sie

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