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093 - Der Geist im Totenbrunnen

093 - Der Geist im Totenbrunnen

Titel: 093 - Der Geist im Totenbrunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cedric Balmore
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ihm gemein.
     

     

Daphne verbrachte den Rest des Tages mit Gartenarbeit und war am Abend rechtschaffen müde. Es überraschte sie nicht, daß Harry darauf verzichtete, ihr das Beruhigungsmittel zu bringen. Er hatte sich offenkundig über sie geärgert und baute darauf, daß sie am nächsten Tag vernünftiger und zugänglicher sein würde.
    Sie ging sehr früh zu Bett und merkte, daß sie damit eine Absicht verband.
    Sie hatte den Wunsch, mit Leroy zu sprechen.
     

     
    „Mit den beiden ist es vorbei, sie fangen bereits an, sich zu hassen“, sagte eine Stimme hinter Leroy.
    Er drehte sich nicht um. Er saß im Garten, fühlte sich von Mondenschein umflossen und starrte auf den dunklen, großen Gebäudekomplex von Marhill Place. Hinter den Fenstern brannte kein Licht.
    Chester wußte, daß Carinius mit ihm sprach. Er hatte mit dieser Begegnung gerechnet. Der Moderduft, der ihn umfing, war von erdhafter Dichte. Leroy war außerstande, festzustellen, ob dieser Geruch von Carinius ausging, oder ob er selbst ihn verbreitete.
    Wenn Leroy an sich herabschaute, sah er seinen Körper, sah Arme und Beine, war aber nicht mehr imstande, sich im Spiegel zu sehen. Die Macht, die ihn zum Leben erweckt und mit Carringtons Zügen ausgestattet hatte, befand sich im Schwinden. Er konnte noch denken und handeln, aber nicht alles, was er meinte tun zu müssen, erwies sich als durchführbar.
    Er war Geist und Mensch zugleich, ein Zwittergebilde, das allmählich anfing, sich selbst zu entfremden und etwas zu werden, das er noch nicht zu erfassen vermochte. Er wußte nicht einmal, ob er sich danach sehnen oder davor fürchten sollte.
    Was erwartete ihn nach diesem makabren Zwischenspiel, nach diesem Intermezzo zwischen Leben und Tod? Würden sich für ihn die Pforten des Paradieses oder der Schlund der Hölle öffnen – oder würde alles nur Ruhe sein, die Auflösung ins totale Nichts?
    „Wie geht es weiter?“ fragte Leroy.
    „Du mußt sie töten“, befahl die Stimme.
    „Wer bist du?“
    „Du weißt es!“
    „Ich kann Daphne kein Leid antun.“
    „Sie hat dich getötet!“
    „Das war O’Neill.“
    „Spielt das eine Rolle? Er besaß ihr Einverständnis“, sagte die Stimme.
    „Daphne bereut.“
    „Das macht dich nicht wieder lebendig.“
    „Ich bin kein Gott“, hörte Leroy sich mit leiser, aber fester Stimme sagen. „Ich maße mir keine Rächerfunktionen an.“
    „Liebst du Daphne noch immer?“
    „Ich fürchte, ja.“
    „Das ist unfaßbar.“
    „Meine Frau ist das Opfer einer geistigen Verwirrung geworden“, sagte Leroy. „Sie begreift, daß das ein Verbrechen war. Sie würde die Tat am liebsten rückgängig machen. Außerdem bin ich mitschuldig an der Entwicklung. Sie hat recht, wenn sie mir vorwirft, daß ich sie vernachlässigt habe.“
    „Wenn du nicht bereit bist, die beiden zu töten, verliere ich meine Macht über dich. Dann hörst du auf, mein Werkzeug zu sein“, sagte die Stimme.
    „Was wird danach geschehen?“
    „Darüber kann ich dir keine Auskunft geben.“
    „Es heißt, daß Liebe Berge versetzt – gilt das auch in deinem Reich?“
    Stille.
    „Hast du mich nicht verstanden?“
    „Wenn Daphne bereit sein sollte, zu dir zu kommen, seid ihr erlöst.“
    „Erlöst? Wovon erlöst?“
    „Es gibt keine Definition für diese Frage. Erlösung ist Glück, das absolute Glück.“
    „Glück mit Daphne?“
    „Ja. Aber es ist sinnlos, darüber zu reden. Kein Mensch hat den Mut, einem anderen ins Reich der Toten zu folgen. Das gibt es einfach nicht.“
    „Lassen wir es darauf ankommen“, sagte Leroy und fühlte, daß er freier atmete. Er blickte nach oben, sah die weiße Mondsichel und war plötzlich überzeugt davon, daß das Grauen seines Wiedererwachens sich auflösen und in das totale Glück münden würde, von dem die Stimme gesprochen hatte.
     

     
    Ein Geräusch ließ Daphne wach werden. Sie setzte sich im Bett auf und schüttelte ihr Haar zurecht. Die Leuchtziffern des kleinen, auf dem Nachtschränkchen stehenden Reiseweckers wiesen auf zwölf. Mitternacht.
    Sie hatte keine Angst. Im Gegenteil. Sie sehnte sich danach, mit Leroy zu sprechen. Sie rief seinen Namen, aber niemand antwortete. „Leroy!“ wiederholte sie.
    Stille.
    Daphne knipste die Nachttischlampe an. Im Treppenhaus knarrte eine Stufe. Sie stand auf, schlüpfte in den Morgenmantel und die kleinen Hauspantoffeln, und fragte sich, ob Einbrecher im Haus waren.
    Sie ging zur Tür und öffnete sie mit einem Ruck. In der Halle war

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