093 - Der Geist im Totenbrunnen
davonfuhr.
Sie war allein, aber seltsamerweise fürchtete sie sich nicht vor der lastenden, drückenden Stille des großen, unheimlichen Hauses. Sie trug den Koffer in ihr Schlafzimmer, packte aus und wußte plötzlich, vor wem sie sich in acht nehmen mußte.
Sie fühlte sich weder von Leroy noch von Inspektor Jameson bedroht.
Die neue, tödliche Gefahr kam allein von Harry O’Neill, ihrem Geliebten.
Daphne erwachte mitten in der Nacht.
Sie setzte sich im Bett auf, seltsam ruhig und beherrscht. Ihr Herz schlug kaum rascher als sonst.
„Leroy?“ fragte sie halblaut.
Stille.
„Leroy?“ wiederholte sie.
„Ja.“
Die Stimme kam aus dem Dunkel. Daphne spürte noch immer keine Furcht. „Ich habe gefühlt, daß du gekommen bist“, sagte sie.
„Ich weiß.“
„Was weißt du noch?“
„Daß er geschossen hat.“
„Er wird noch einmal schießen, nicht wahr? Diesmal auf mich“, sagte sie.
„Vielleicht.“
„Was empfindest du dabei?“
„Trauer.“
„Du haßt mich, nicht wahr?“
„Ich habe dich gehaßt“, sagte er.
„Das ist jetzt vorbei.“
„Wenn ich jetzt Licht machte, würde ich dich nicht einmal sehen – oder?“
„Das ist richtig“, sagte er. „Die Kraft ist verbraucht.“
„Welche Kraft?“
„Die Kraft, die Carinius auf mich übertrug und die es ihm ermöglichte, meine Rückkehr durchzusetzen.“
„Ist es eine göttliche Kraft?“ fragte sie kaum hörbar und fühlte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken kroch.
„Nein“, erwiderte er.
„Bist du im Reich der Toten schon zu Hause, gehörst du jetzt ganz zu ihnen?“ flüsterte sie.
„Nein.“
„Warum antwortest du mir nicht ausführlicher?“ wollte sie wissen.
Pause.
„Mein Besuch erfordert auch ohne Sichtbarwerden Kräfte“, sagte Leroy dann. „Sie liegen jenseits deines Vorstellungsvermögens. Sie verbrauchen sich. Zu ihrer Regeneration bedarf es seelischer Ströme und Energien, die nur unter bestimmten Voraussetzungen wirksam werden.“
„Du sprichst zu viel“, sagte sie. „Es genügt mir, zu wissen, daß du da bist. Ich brauche dich, Leroy.“
„Mich, einen Toten?“
„Ich habe keine Angst vor dir, aber ich fürchte mich vor Harry“, sagte sie. „Wird er mich töten?“
„Ich weiß es nicht.“
„Hast du mit Carinius gesprochen?“ fragte sie fröstelnd.
„Nein, aber etwas von seinen auf mich übertragenen Kräften hat mir die Hellsichtigkeit geschenkt, die zum Erfassen des Geschehens notwendig ist.“
„Bleibst du jetzt bei mir, Leroy?“
Stille.
„Leroy?“ rief sie.
Er antwortete nicht mehr.
Sie legte sich seufzend zurück, verschränkte die Arme unter dem Nacken und fühlte, daß Leroy noch immer im Zimmer war. Sie schloß die Augen und schlief ein. Als sie am nächsten Morgen erwachte, spürte sie noch immer Leroys Nähe. Es ängstigte sie nicht, es gab ihr sogar eine gewisse Kraft.
Daphne glaubte zu wissen, daß Leroy ihr verziehen hatte oder doch auf dem besten Weg war, es zu versuchen.
Nach dem Frühstück erhielt sie den Besuch von Inspektor Jameson.
„Ich weiß, welche Nachricht Sie mir bringen“, empfing sie ihn und führte ihn ins Wohnzimmer. „Die Leiche meines Mannes ist verschwunden. Harry hat mich vom Bahnhof abgeholt und mir davon berichtet.“
Jameson setzte sich. „Gemessen an dem Schock, den die Nachricht in Ihnen ausgelöst haben muß, sind Sie erstaunlich gefaßt …“
Sie ließ sich ihm gegenüber nieder. „Ich habe keine Erklärung dafür“, sagte sie. „Für den Leichenraub, meine ich.“
„Sie werden sich denken können, daß ganz Hillory Village eine einzige Brutstätte für Gerüchte ist.“
„Das kann ich den Leuten nicht verübeln. Das Geschehnis ist in der Tat geeignet, die wildesten Spekulationen wuchern zu lassen. Fragen Sie mich nicht, wie das Unfaßbare geschehen konnte. Ich weiß es nicht.“
„Ich habe meiner vorgesetzten Behörde einen detaillierten Bericht zukommen lassen, einen Report mit allen Einzelheiten“, sagte Inspektor Jameson. „Ich konnte dabei nicht an Carrington vorübergehen, der für die Ermittlungen plötzlich zentrale Bedeutung erlangt hat.“
„Carrington?“
„Ja. Sein etwas überraschendes Auftauchen und sein ebenso mysteriöses Verschwinden stellen sich jetzt in einem neuen Licht dar“, sagte Inspektor Jameson. „Wir haben Grund, anzunehmen, daß er den Auftrag hatte, die Leiche auszubuddeln und verschwinden zu lassen.“
„Einen Auftrag – von wem?“ würgte Daphne
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