093 - Der Geist im Totenbrunnen
habe. Man meint, ich habe Leroys Leiche verschwinden lassen, um einer drohenden Mordanklage entgehen zu können.“
„Mein Gott – darin steckt eine gewisse Logik“, erkannte Daphne. „So hätte es gewesen sein können!“
„Ja“, sagte Harry dumpf und holte tief Luft. „So war es auch!“
Sie erreichten Marhill Place. Harry trug Daphne den Koffer in das Haus. Sie setzten sich ins Wohnzimmer, schenkten sich einen Kognak ein und nahmen Platz. Sie waren viel zu sehr mit ihrem Problem beschäftigt, als daß sie die stickige, verbrauchte Luft in dem seit Tagen ungelüfteten Raum gestört hätte.
„Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?“ wollte Daphne wissen.
„Ich wollte dich nicht noch mehr belasten, als es ohnehin schon der Fall ist“, erklärte er. „Jameson fragte mich nach deinem Hotel und ließ durchblicken, worum es geht. Ich erkannte sofort, was auf dem Spiel steht und beschloß, zu handeln.“
„Du bist also mitten in der Nacht losgezogen, um den Toten auszugraben?“
„Ja. Was blieb mir denn übrig? Ich mußte es tun, sonst hätte die Polizei mühelos die Selbstmordtheorie zerpflückt.“
„Hier riecht es wie in einem Grab“, sagte Daphne plötzlich.
„Ja“, nickte Harry und sah sie mit seltsamem Blick an. „Du hast recht.“
Plötzlich hatte sie Angst vor ihm. Sie musterte seine schmalen, geschickten Hände, die den Kognakschwenker umfaßt hielten. Diese Hände hatten eine Leiche berührt, den Körper ihres schon in Verwesung übergegangenen Mannes.
Ein heftiger Ekel schnürte ihr die Kehle zu. Sie fürchtete sich vor Harrys Händen und glaubte in diesem Augenblick, niemals wieder ihre Berührung ertragen zu können.
„Was ist?“ fragte er stirnrunzelnd. „Du solltest mir für mein entschlossenes, konsequentes Handeln dankbar sein. Ich habe das für dich getan.“
„Nein, du hast dabei in erster Linie an dich gedacht“, widersprach sie ihm. „Schließlich stehen dein Leben und deine Existenz auf dem Spiel. Ich habe Leroy angelogen, als er mich fragte, wer ihn tötete. Ich nahm die Schuld auf mich, weil ich meinte, daß dies meine Pflicht als deine Geliebte sei. Leroy weiß also nicht, daß in Wahrheit du den tödlichen Schuß auf ihn abgegeben hast.“
„Was hat das mit der Grabesöffnung zu tun?“
„Sehr viel“, meinte Daphne. „Du hast damit vor allem deine Interessen gewahrt.“
„Meine Interessen sind auch die deinen“, sagte er scharf. „Wenn wir anfangen, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen, ist alles verloren.“
„Ich erhebe keine Vorwürfe, ich rücke nur ein paar Dinge ins rechte Licht, die dieser Korrektur bedürfen“, sagte Daphne. Ihr fiel ein, daß Harry nach dem Betreten des Hauses nicht einmal versucht hatte, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen. Sie war ihm dankbar dafür. Erst mußte alles aus dem Weg geräumt werden, was ihre Zukunft bedrohen konnte.
„Was – was hast du mit der Leiche angestellt?“ fragte Daphne stockend.
„Dreimal darfst du raten!“ sagte er bitter.
„Du hast sie verbrannt!“
„Wie und wo denn? Du bist wirklich naiv“, sagte er verärgert. „Hätte ich mitten in einer Sommernacht irgendwo ein Feuer entzünden sollen? Nein, ich habe ihn nach hier gebracht und in den Brunnen geworfen.“
Daphne zuckte zusammen. „Nein!“
„Da gehört er hin“, sagte Harry. Es klang beinahe trotzig.
„Aber…“
„Aber was?“
„Er wird mich verfolgen, Tag und Nacht – vielleicht steht er schon irgendwo im Raum!“ rief Daphne, die einen Punkt erreicht hatte, wo sie sich kaum noch zu beherrschen vermochte.
„Was ist schon dabei, wenn er noch einmal zurückkehrt und dich oder mich zu quälen versucht?“ fragte Harry. „Der Überraschungseffekt seiner ersten Besuche ist längst zum Teufel. Wir können nur noch über ihn lachen!“ „Lachen – über einen Toten?“ „Du redest, als sei er ein Heiliger. Vergiß nicht, daß wir gemeinsam seinen Tod planten und ausführten.“
„Ich weiß. Es war ein Verbrechen.“ „Das ist mir klar, und du wußtest es auch!“ sagte er. „Wir waren bereit, die Folgen unseres Tuns auf uns zu nehmen, wir fühlten uns sogar berechtigt, den Mord um unserer Liebe willen zu verüben.“ „Liebst du mich noch, Harry?“ „Diese Frage habe ich dir bereits im Auto beantwortet“, sagte er ärgerlich und stand auf. „Ich muß jetzt gehen. Vielleicht beobachtet man uns.“
Sie brachte ihn nicht einmal zur Tür und war froh, als sie hörte, wie der Wagen
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