093 - Der Geist im Totenbrunnen
fragte sich, wie es weitergegangen war an diesem Nachmittag, aber er fand darauf keine Antwort. Hatte Harry ihn noch begrüßt? Leroy Chester schüttelte den Kopf. Nein, daran konnte er sich nicht erinnern. Da waren nur die Stimmen im Wohnzimmer gewesen, das Summen der Fliegen, das Zwitschern der Vögel, und ein fremdes, ihn irritierendes Geräusch. Ein leises Quietschen…
Wie war es zustande gekommen?
Es war merkwürdig, daß er jetzt an dieses Geräusch zurückdenken mußte, aber er wußte nicht, wer es erzeugt hatte. Leroy ahnte lediglich, daß damit seine seltsame Verwandlung in Mr. Carrington begonnen hatte. Er war ein anderer, aber in ihm lebte die Seele von Leroy Chester.
War Leroy Chester wirklich tot?
Hatte ein unerklärliches Schicksal ihn dazu bestimmt, eine Reinkarnation zu erleben?
Ihm fiel ein, daß er nicht einmal seinen neuen Vornamen wußte, und er öffnete den Paß, um ihn nachzulesen. Wilson. Wilson Carrington. So übel hörte sich das gar nicht an. Er prüfte die Geburtsdaten. Sie waren ihm fremd. 28. 7.37. Geboren in Donnegan, Grafschaft Sussex, England.
Ich fahre hin, ich sehe mir die Kirchenbücher an, beschloß Leroy Chester. Ich werde mich erkundigen, wer die Carringtons sind oder waren. Ich will wissen, wer meine Mutter, wer mein Vater ist…
Er steckte den Paß ein.
Inzwischen hatte er den Marktplatz erreicht. Er fühlte die neugierigen Blicke der wenigen Passanten auf sich ruhen. Sie störten ihn kaum, denn niemand kannte ihn. Er war für die Leute des Ortes ein Fremder.
Chester bemerkte den Eingang zu dem kleinen, verträumten Museum, das er schon oft besucht hatte, weil ihm die Kühle gefiel, die dort herrschte, die würdevoll, kaum einmal von Besuchern unterbrochene Stille alter, romantischer Gewölbe.
Es war das sogenannte Heimatmuseum, in dem sich auch einige Gegenstände befanden, die früher einmal zu Marhill Place gehört hatten und die der Gemeinde von den Vorbesitzern vermacht worden waren.
Ein Rentner, der alte Gerry Cochran, fungierte als Portier und kassierte ein paar Penny Eintrittsgeld.
Leroy Chester löste ein Ticket und gab dem Mann das übliche Trinkgeld. Cochran bot sich eifrig als Führer an, aber Leroy Chester winkte ab und stellte klar, daß er allein zu sein wünschte.
Im Museum gab es ein paar Stühle und Bänke. Hier konnte man sitzen und träumen und sich von der Vergangenheit einspinnen lassen, hier hörte die Welt der Moderne auf, eine Rolle zu spielen. Man war plötzlich getrennt von allem, was der Gegenwart ihren Stempel aufdrückte.
Leroy Chester setzte sich. Er schloß die Augen und lehnte seinen Kopf gegen die kühle, weißgetünchte Mauer. Er war müde, aber nur für wenige Sekunden, dann überfiel ihn wieder die quälende Unrast, die mit den vielen Fragen seiner neuen, so unerklärlichen Existenz zusammenhing.
Ich muß zu Daphne, dachte er.
Nur sie kann mir helfen…
Ihm schien es plötzlich so, als wäre jemand in der Nähe, als würde er beobachtet. Er hob die Lider und schaute sich um. Er war allein.
Trotzdem wurde er das Empfinden nicht los, daß fremde Augen auf ihm ruhten. Er wandte den Kopf. Im Nebenraum hingen ein paar dunkle, alte Gemälde. Er lächelte. Das war es also! Die Augen der Dargestellten schienen ihn festzuhalten. Sie musterten ihn aufmerksam, aber leer. Das scheinbare Leben in ihren Blicken war nur eine Fiktion aus Öl, Farbe und Leinwand.
Aber war nicht auch das Leben des Wilson Carrington eine Einbildung?
Nein, dieser Carrington lebte, er ließ sich fotografieren, er konnte sich rasieren, mit anderen sprechen, konnte essen und atmen. Was blieb, war der Widerspruch zwischen Spiegelbild und Wirklichkeit, zwischen Erinnerungsanspruch und Gegenwart.
Leroy Chester zuckte kaum merklich zusammen. Er stand auf, betrat den Nebenraum und näherte sich einem der Bilder, dessen Ausstrahlungskraft ihm besonders stark dünkte. Das goldgerahmte, stark nachgedunkelte Ölgemälde war von haarfeinen Altersrissen übersät, aber das Gesicht des Landadeligen, das es zeigte, war von seltsamer Kraft und Vitalität. Es wirkte auf seltsame Weise modern, etwa wie das Bild eines Lebenden, das sich hinter einem Schleier von Spinnweben verbirgt.
Chester trat langsam näher.
Er fand es beklemmend, wie seine Absätze auf dem steinernen Fußboden des Gewölbes hallten, und er hatte plötzlich das deutliche Gefühl, vor der Lösung des Rätsels zu stehen.
Er war außerstande, seine Blicke von dem Bild zu wenden. Der Mann auf dem
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