093 - Der Geist im Totenbrunnen
Gemälde trug eine Halskrause, mehr war von seiner Kleidung nicht zu sehen. Der Maler hatte sich im Rembrandt’schen Stil damit begnügt, das Gesicht zu betonen; der Rest verdämmerte im Dunkel von Hintergrund und Umrahmung.
Leroy Chesters Herz machte einen jähen, schmerzhaften Sprung. Plötzlich wußte er, daß er dieses Gesicht kannte.
Es war identisch mit dem Foto in seinem Paß, identisch auch mit der Momentaufnahme, die mit der Polaroidkamera von ihm gemacht worden war, und identisch mit Wilson Carrington.
Er schluckte, fassungslos.
Allmählich wurde die Summe der Ungereimtheiten unerträglich, und er zweifelte mehr denn je an der Funktionsfähigkeit seines Verstandes. Gleichzeitig verstärkten die schockierenden Erlebnisse sein seherisches Vermögen.
Ihm dämmerte, daß er in ein Geschehen verwickelt worden war, das sich mit den üblichen, wissenschaftlichen Klischees nicht erfassen ließ. Er mußte lernen, seine neue Rolle als ein Ereignis zu respektieren, das sich außerhalb menschlicher Normen bewegte.
Er trat dicht an das Gemälde heran. Unter dem Bild hing ein kleines Schild.
UNBEKANNTER MEISTER, 15. JHDT. PORTRÄT DES W. CARINIUS.
Carinius, Carrington…
Chesters Nackenhärchen sträubten sich, als er plötzlich Schritte hinter sich vernahm. Er hatte nicht den Mut, sich umzuwenden und war erleichtert, als der bierdunstgeschwängerte Atem des alten Cochran über seine Wange strich.
„Komisch“, sagte Cochran. „Er sieht Ihnen ähnlich.“
„Finden Sie?“ hörte Leroy Chester sich spöttisch erwidern.
„Ja, ganz im Ernst.“
„Carinius – wer war das?“ fragte Leroy Chester.
„Der Herr von Marhill Place“, erwiderte Cochran.
„Oh Gott, mir ist ganz schlecht“, sagte Daphne Chester. Sie saß neben Harry O’Neill, der die schwere, schwarze Humber-Limousine steuerte, die Leroy Chester vor zwei Jahren gekauft hatte, weil er der Meinung gewesen war, daß sie fabelhaft zu Marhill Place paßte.
„Es ist vorbei“, tröstete Harry O’Neill die junge Frau und war bemüht, langsam zu fahren. Er nickte hin und wieder nach draußen und verabschiedete sich von den Trauergästen, die sich langsam in alle Winde zerstreuten. Die meisten hatten ihre Fahrzeuge schon vorher auf dem Parkplatz des Friedhofs abgestellt, um rasch nach Hause zu kommen.
Daphne hielt ihr Gesicht hinter dem kurzen Schleier des kleinen, schwarzen Hutes verborgen. „Ich möchte rauchen“, sagte sie matt.
„Nicht jetzt, laß uns erst den Trubel abschütteln“, empfahl er. „Es sieht besser aus.“
„Findest du, daß es gut aussieht, wenn du die trauernde Witwe nach Hause fährst?“ erkundigte sie sich spöttisch.
„Nach Lage der Dinge ist das ganz natürlich“, sagte Harry O’Neill ruhig. Er fuhr jetzt schneller, der Friedhof lag weit hinter ihnen. „Ich bin ein Freund des Hauses, der einzige, den es gibt. Du bist allein, hilflos, eine bedauernswerte Kreatur…“
„Hör auf damit“, sagte sie scharf. „Machst du dich lustig über mich?“
Er lachte kurz. „Liebling, werde doch nicht nervös! Wir haben es geschafft.“
„Ich frage mich, was die anderen denken.“
„In einem Dorf wird immer geklatscht. Die Leute brauchen das. Niemand nimmt es ernst. Wir wären dumm, wenn wir auch nur einen Gedanken daran verschwendeten.“
Sie hatten die offene Landstraße erreicht. Der Motor gab einen satten Brummton von sich. Es schien, als flogen die Chausseebäume vorbei. Daphne öffnete die Handtasche und nahm Zigaretten und Feuerzeug heraus. Dann, beinahe wütend, riß sie sich das Hütchen mit dem Schleier vom Kopf. Sie warf es in den Fond, steckte sich eine Zigarette an, inhalierte tief und stieß den Rauch aus.
„Hast du den Fremden bemerkt?“ fragte sie und schaute Harry O’Neill an.
„Welchen Fremden?“
„Er kam etwas später, hörte kurz zu, und ging dann wieder weg.“
„Ein Neugieriger, nehme ich an. Warum fragst du?“
„Da war noch ein fremdes Gesicht, der Kerl mit der Brille und dem komischen, schwarzen Hut. Ich wette, das war ein Spitzel.“
„Ein Spitzel?“
„Ja, ein Schnüffler, ein Polizist – vielleicht auch ein Versicherungsdetektiv.“
„Du siehst Gespenster.“
„Erwartest du im Ernst, daß unser Coup reibungslos über die Bühne geht?“
„Ich habe den Totenschein ausgestellt“, sagte Harry O’Neill nachdrücklich. „Ich bin approbierter Arzt, ein allseits angesehener Mann. Niemand würde es wagen, meine Diagnose in Zweifel zu ziehen.“
Daphne
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