0930 - Das Stigma
Motorrad bremste wohl nicht so gut, auf dem beide Eltern saßen. Zusammen mit der kleinen Marcia. Sie überlebte, ihre Eltern aber kamen ums Leben. Sie trugen keine Helme und erlitten gefährliche Kopfverletzungen. Es gab keine Rettung mehr für sie.«
»Das hat mir Marcia nie gesagt.«
»Sie wollte damit auch nichts zu tun haben, obwohl sie immer wieder diesen Ort besucht. Aber allein. Einige waren der Meinung, daß sie dort nur hinging, um mit ihren toten Eltern Kontakt aufzunehmen. Wir glaubten daran, daß sie mit ihnen sprechen wollte.«
»Aber nicht im eigentlichen Sinne?«
»Nein.«
»Dann trauten Sie es ihr also zu, Kontakt mit den Toten aufzunehmen, eine Verbindung zum Jenseits zu schaffen.«
»Bestimmt.«
»Und wie verhielten Sie sich? Ich meine nicht nur Sie persönlich, sondern auch die anderen Menschen in Aldroni.«
Alexa Tardi wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Ihr Gesicht sah so aus. »Wissen Sie, Signore Sinclair, Sie dürfen unseren Ort nicht mit den anderen Städten vergleichen, die Sie kennen. Hier ist alles anders. Wir sind hier zurückgeblieben. Wir leben hinter dem Berg, die Ereignisse der großen Welt laufen an uns vorbei. Für manche ist es schon etwas Besonderes, daß sie Strom haben, mal übertrieben gesagt. Hier hat sich noch viel aus der Vergangenheit gehalten, Signore Sinclair. Man glaubt auch an Dinge, die man nicht sieht. Man ist zwar gläubig, aber den Aberglauben kriegen Sie nicht weg.«
»Kann sein«, sagte ich, »aber das ist nicht mein Thema. Mir geht es auch um die Gestalt unter uns. Sie muß irgendwoher gekommen sein. Marcia hat ihn als Engel angesehen, sie hat sich sein Blut genommen und damit die Menschen geheilt. So frage ich jetzt Sie. Ist er ein Engel?«
Alexa antwortete mit einer Gegenfrage. »Ist er ein Geist?« Sie hauchte den Satz nur.
Ich verzog das Gesicht. »So kommen wir doch nicht weiter. Wir müssen uns zumindest auf einen Begriff einigen.«
»Bitte.«
»Bleiben wir bei Engel?«
»Ja, meinetwegen.«
»Sehr gut«, sagte ich. »Er ist ein Engel, und er kann früher einmal eine feinstoffliche Gestalt gehabt haben. Das aber ist vorbei. Jetzt hat er sie verloren und liegt dort blutleer wie in einem Grab.«
»Niemand geht mehr in die Kirche«, flüsterte Alexa.
»Warum nicht?«
»Sie fürchten sich vor ihm. Jeder weiß doch, daß der Engel dort unten liegt.«
»Das stimmt. Er ist tot. Ich habe die Schnitte in seinem Körper sehr gut gesehen. Wenn mich nicht alles täuscht, müssen sie ihm mit einem Messer zugefügt worden sein, und ich kann mir auch vorstellen, wer sie ihm beigebracht hat.«
Alexa nickte nur.
»Da wir uns einig sind, baut sich meine nächste Frage auf. Ich würde gern von Ihnen wissen, Signora Tardi, wie Marcia an diesen Engel herangekommen ist. Wie konnte sie ihn locken? Das begreife ich nicht, denn sie hat es mir auch nicht gesagt. Für mich und die Aufklärung des Falls ist es aber wichtig. Deshalb meine Frage an Sie: haben Sie…?«
Alexa schüttelte den Kopf. Ich wußte, daß ich nicht mehr weiterzusprechen brauchte. »Wir haben keine Ahnung. Er war hier, es ist schon einige Zeit her, und er blieb auch hier. Wie Marcia es geschafft hat, ist uns ein Rätsel. Sie sind doch mit ihr gekommen und haben zu ihr einen guten Kontakt. Fragen Sie die Frau.«
Ich zeigte ein schiefes Lächeln. »Wenn das so einfach wäre.«
»Wieso?«
»Sie ist nicht da.«
»Bitte?« Alexa schaute verwundert. »Sie haben doch unter einem Dach mit ihr den Abend verbracht und…«
»Davon abgesehen, daß wir in verschiedenen Räumen geschlafen haben, so ist es mir nicht gelungen, mit Marcia in den letzten Stunden zu sprechen. Sie befindet sich nicht mehr in ihrem Zimmer. Sie ist weg, verschwunden, hat sich möglicherweise aus dem Staub gemacht oder wartet irgendwo noch auf uns.«
Was mich bedrückte, faßte Alexa als Gegenteil dessen auf. »Das ist gut«, sagte sie leise. »Sie soll nicht mehr kommen. Wir wollen Sie hier nicht haben. Wir haben uns zusammengefunden, um sie zu vertreiben, verstehen Sie?«
»Irgendwo schon«, gab ich zu. »Aber es haben sich nur Frauen versammelt, Signora Tardi, nur Frauen! Ich frage mich natürlich, wo die Männer des Ortes sind.«
Alexa schwieg. Aber sie war nervös oder erregt, denn sie spielte mit ihren Fingern. Ihr gefiel es nicht, darauf eine Antwort geben zu müssen, deshalb hob sie nur die Schultern.
Ich blieb hart. »Was ist mit den Männern?«
»Weg.«
»Das ahnte ich.«
»Nehmen Sie es zur
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