0930 - Das Stigma
Kenntnis.«
»Sind Sie geflohen?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Gegangen, sage ich mal. Es gibt hier keine Männer mehr. Dieser Ort ist tot. Er liegt einsam. Er lebt von den Frauen und den wenigen Kindern, die uns die Männer hinterlassen haben. Sie sind alle weg, sie sind in die Städte gegangen, um dort ihr Brot zu verdienen, wie man so schön sagt. Sie wollten nicht mehr bleiben, weil sie hier keine Chance mehr sahen, verstehen Sie?«
»Beruflich?«
Alexa zögerte mit der Antwort. »Ja - schon…«
Ich glaubte ihr nicht so recht, aber das war jetzt nicht wichtig. Es ging in zweiter Linie um den Engel, aber in erster ging es um Marcia Morana.
Nur sie konnte Licht in das Dunkel bringen. Ich fragte mich auch, was ich mit diesem Engel machen sollte. Ich konnte ihn liegenlassen, aber es war auch möglich, daß ich ihn mit meinem Kreuz angriff. Das würde sich noch alles ergeben. Jedenfalls gab es mehr Rätsel als zuvor, und das größte hieß Marcia Morana.
»Jetzt wissen Sie alles.«
»Aber nicht genug.«
»Das weiß ich, Signore Sinclair. Wir wissen auch zuwenig. Tun Sie uns einen Gefallen. Nehmen Sie Marcia und gehen Sie wieder. Es ist besser so. Wir brauchen Sie nicht. An den Engel haben wir uns gewöhnt, aber er und sie zusammen, das geht nicht gut. Da gibt es Verbindungen, die uns nicht gefallen, wenn Sie verstehen.«
»Das glaube ich Ihnen. Mir ist noch etwas eingefallen. Auch ein Pfarrer ist ein Mann. Ist er wenigstens hier im Ort geblieben?«
»Si. Aber er ist tot.«
»Auch das noch.«
»Er starb vor einigen Wochen. Er war alt, das Herz machte nicht mehr mit.«
»Und wie ist es mit einem neuen Pfarrer?«
»Noch haben wir keinen. Die Kirchenleitung hat uns wohl vergessen.«
Ich mußte lächeln, obwohl die Situation nicht dazu angetan war.
»Irgendwo paßte es wohl zusammen. Hier im Ort ist eben alles anders und mit der normalen Welt nicht vergleichbar.«
»Ja, wir leben hier wirklich am Rande der Welt. Oder sind einfach von ihr vergessen worden. Aber wir wollen es nicht ändern. Es läuft alles irgendwie weiter.«
»Und Marcia?«
»Ist der Punkt, der uns stört.«
»Akzeptiert.«
»Was wollen Sie jetzt tun?« Alexa Tardi rückte etwas näher an den Kerzenschein heran. Ich konnte ihr Gesicht deutlich sehen, in dem die Schatten jetzt verschwunden waren. Kopftuch und Kleidung hatten sie noch älter gemacht, als sie tatsächlich war. Sie war etwa vierzig, und das harte Leben in dieser Region hatte Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen.
»Lassen Sie uns gehen«, schlug ich vor.
»Und dann?«
»Wir werden weiterreden, wenn es hell geworden ist. Am Tag sieht alles oft ganz anders aus, finde ich.«
»Ja, aber nur äußerlich, Signore Sinclair. Die Probleme aber bleiben, denn sie lassen sich nicht so einfach aus der Welt schaffen.«
»Ich werde mich darum kümmern.«
Nach diesem Satz schaute mich Alexa intensiv an. Sie zeigte einen skeptischen Gesichtsausdruck, der allerdings mehr und mehr verschwand und sich zu einem Lächeln veränderte. »Es ist schon komisch oder ungewöhnlich, aber ich vertraue Ihnen.«
»Danke.«
Wir erhoben uns zugleich, gingen noch einmal durch die düstere, totenstille Kirche und traten hinaus in die Nacht.
Die Rätsel waren nicht weniger geworden.
***
Ich hatte Alexa Tardi versprochen, sie noch bis zu ihrem Haus zu bringen, was sie sehr begrüßte. Sie hakte sich sogar bei mir ein, sagte kaum etwas, als wollte sie die bedrückende Stille in dem kleinen Felsenort nicht stören. Jeder von uns hing seinen Gedanken nach, und nur die Echos der Tritte begleiteten uns.
Von den anderen Frauen sahen und hörten wir nichts. Sie hatten sich wieder in ihre Häuser zurückgezogen und waren dort auch im Dunkeln geblieben, denn nach erleuchteten Fenstern hielten wir vergebens Ausschau. Alles war eingepackt in die wattige Finsternis und wurde beschützt von den kantigen Felsen der Abruzzen.
Es war kühler geworden, und die Mauern schienen auszuatmen. Es roch nach Staub und Asche.
Alexa Tardi wohnte an der breitesten Straße des Ortes, die ich nur weiter hochgehen mußte, um das Haus der Marcia Morana zu erreichen. Ein paar Pflanzen hatten es trotz der widrigen Bedingungen geschafft, sich an der Haus wand hochzuranken. Allerdings nur bis zu den Blendläden, der unteren Fenster, dort endeten sie dann wie abgeschnitten.
Von der schmalen Haustür blieb Marcia stehen. »Was soll ich Ihnen wünschen?« fragte sie.
»Eine gute Nacht.«
»Mehr nicht?«
»Nein.«
»Ich denke
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