0936 - Schattentheater
zusammen und suchte in dem Halbdunkel nach der Quelle der Stimme. Erst sah sie nichts, doch dann trat auf einmal eine in eine alt-japanische Samuraitracht gekleidete Gestalt in das Licht der nächsten Straßenlaterne.
Zunächst dachte Nicole, es wäre Ieyasu-san. Doch im trüben Schein der Lampe sah sie, dass die Kleidung dieser Gestalt rauchgrau und nicht dunkel war. Oder war sie so fein schwarz-weiß gemustert, dass es rauchgrau wirkte? Nicole versuchte, genauer hinzusehen, doch es gelang ihr nicht. Das Gesicht, die halb lächelnde, halb ernsthafte Nô-Maske, an die sie den ganzen Abend hindurch gedacht hatte, schien darüber zu schweben, als hätte die Gestalt keinen Kopf und wolle diesen mit der Maske nur vortäuschen. Das Wesen hielt dabei den Kopf leicht nach vorn geneigt, sodass Nicole die freundliche Version des Gesichtes zu sehen bekam.
Das Wesen, nur wenig mehr als ein Schatten, kam näher, und noch während Nicole versuchte, es genauer zu erkennen - was schwierig war, denn es trat jetzt aus dem Licht der Laterne hinaus -, sprach die graue Gestalt weiter.
»Ich grüße die werte Weißmagierin und bin sehr froh, dass sie meine Hinweise richtig interpretiert hat, nämlich dass wir uns hier in meinem Land wiedersehen.«
Welche Hinweise und wer bist du überhaupt? , fragte sich Nicole unwillkürlich, stellte die Frage aber dennoch nicht laut. Immerhin war sie hier. Und in diesem Moment wusste sie auch, wer da vor ihr stand:
Es war der Shinigami.
***
Sie war wirklich gekommen.
Der Shinigami war hoch zufrieden. Der ihm höher gestellte Geist hatte ihm gesagt, dass die Weißmagierin klug genug war, aus der Begegnung und den Geschehnissen mit ihm in Paris die richtigen Schlüsse zu ziehen, und hierhin zu kommen, wo sie gebraucht wurde. Sie ist wahrhaft eine kluge Frau. Eine, die wirklich helfen kann, CHAVACH zu finden. So, wie mein höherer Geist es angeordnet hat.
Er verneigte sich wieder.
»Es ist mir eine Ehre, die verehrte Weißmagierin hier begrüßen zu dürfen«, wiederholte er. »So werden wir schon bald gemeinsam auf die Jagd nach dem Dämon CHAVACH gehen können.«
»Deshalb bin ich nicht gekommen«, stieß die junge Frau vor ihm aus. »CHAVACH ist in Paris und nicht hier. Ich bin wegen dir gekommen, denn ich will erst ein paar Antworten, bevor wir Partner werden!« Das klang entschlossen und nicht sehr kooperativ. Doch der Shinigami wusste es besser. Der ihm übergeordnete Geist hatte es so gesagt, und was er sagte, war immer richtig.
Der Shinigami senkte seinen Kopf noch ein wenig mehr. Er wusste, für die Weißmagierin würde sein Lächeln jetzt noch etwas deutlicher erkennbar sein.
»Der Ort, an dem sich CHAVACH befindet, ist irrelevant«, sagte er dann. »Mir sind Geister übergeordnet, die die endgültige Weisheit besitzen. Die sehr verehrte Weißmagierin weiß über solche Geister Bescheid und kennt selbst solche. Daher wisst Ihr sicher, verehrte Zauberin der weißen Magie, dass wir niederen Diener nur wenig gegen die Anordnungen der göttlichen Weisheit tun können.«
Doch die Zauberin schien das nicht zu verstehen. Nicht verstehen zu wollen . Sie klang ungeduldig, zornig fast, darüber, dass er nicht genauer sagen wollte, worum es ihm ging, und stapfte wütend ein paar Schritte hin und her. Offenbar überlegte sie, ob sie einfach gehen sollte. Der Shinigami zögerte. Das wollte er nicht zulassen. Der ihm übergeordnete Kami hatte ihm gesagt, dass es noch nicht an der Zeit sei, mehr zu enthüllen. Und wer war er, diesem Wesen zu widersprechen? Das stand ihm nicht zu. Der Weißmagierin allerdings auch nicht. Aber er beruhigte sich damit, dass in ihrem Teil der Welt die Menschen und auch die Diener der höher geordneten Wesen ungestümer schienen. Deswegen waren sie nicht weniger einsichtig oder klug.
Also würde er schweigen und Rücksprache mit seinem übergeordneten Geist halten, bevor er deutlicher wurde. Vorerst würde er nur Andeutungen weitergeben, im Vertrauen auf die Klugheit derjenigen, die vor ihm stand und ihre Hände in die Hüften stemmte.
»Die verehrte Weißmagierin möge sich noch eine Weile gedulden«, sagte er zu der stocksteif und mit gerunzelten Brauen dastehenden Frau. »Wir werden uns später weiter unterhalten. Zuerst muss ich mein Amt versehen, zu dem ich vornehmlich bestimmt bin und die Seele dieses Mannes hinüberbringen. Seid also getrost. Es ist nicht jedem vergönnt, am Ende seines Lebens und nach einem so grausamen Tod voller Angst und Schrecken zu den
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