0936 - Schattentheater
eine Offenbarung, als er es traf und sich in dieses Wesen hineinversenkte, es umschlang und begann, seine Kraft abzusaugen…
***
Nicole schrak zusammen, als sie den furchtbaren Schrei hörte, der ihr durch Mark und Bein ging. Für eine Sekunde musste sie das Grauen, dass sich ihrer wie aus dem Nichts in diesem Moment bemächtigt hatte, bewusst zurückdrängen, weil es sie sonst völlig überwältigt hätte.
Diese Präsenz! Wie in meinen Albträumen! , dachte sie schaudernd und schob mit erneuter Anstrengung auch den letzten Rest ihrer Angst beiseite und rannte los. Der Schrei war dort hinten aus der kleinen Gasse gekommen, die etwa dort begann, wo Nicole Tanabe-san zuletzt gesehen hatte.
Während sie über die Straße und in die dunkle, schmale Gasse hinein lief, umklammerte ihre Hand den Dhyarra-Kristall, der sich in ihrer Tasche befand. Sie malte sich noch im Laufen aus, wie ungefähr ein Mann, der gerade von einem Dämon angegriffen wurde, aussehen mochte, wenn er von einem Energieschild umgeben wurde, wie ihn Merlins Stern bei Gefahr bildete.
Doch dann stutzte sie. Wo war Tanabe-san? Hatte sie sich vertan? Es war mangels Straßenbeleuchtung kaum etwas zu erkennen, doch dann erklang sowohl zu ihrer Erleichterung als auch zu ihrem Entsetzen ein weiterer Schrei, der durch sie hindurchfuhr wie ein scharfes Messer durch Butter. Da hinten. Zwei Gestalten schienen miteinander zu ringen und Nicole rannte weiter. Wieder konzentrierte sie sich auf das Bild des grünlichen Energieschirms, während sie näher heranrückte, und wunderte sich, dass sie nichts Entsprechendes sehen konnte. Mit zunehmender Unruhe blieb sie stehen, schloss die Augen und stellte sich vor, wie Tanabe-san von einer grünwabernden Wand umgeben wurde, die seinem Gegner unmöglich machte, ihn anzufassen.
Sie war noch ungefähr zehn Meter von den beiden Gestalten entfernt, als es grün zwischen ihnen aufblitzte. Doch wieder erklang ein erstickter Schrei und ein bösartiges Fauchen, die einander zu übertönen versuchten. Der menschliche Todesschrei schien überhaupt kein Ende zu nehmen, wurde schriller und schriller, bis er schließlich abrupt mit einem widerlich schmatzenden Geräusch abbrach. Gleichzeitig fauchte und brüllte es wieder unartikuliert und Nicole glaubte beinahe sicher, dass dieses fauchende Gebrüll Zufriedenheit wiedergab.
Sie öffnete die Augen - und ihr bot sich ein schauderhaftes Bild. Der Dhyarra hatte offenbar Nicoles Vorstellungen umgesetzt, doch das grünlich schimmernde und flirrende Netz umgab jetzt nur noch einen Rumpf. Im Licht der Straßenlaterne, die fünf Meter weiter weg stand, war dunkles Nass rund um diesen Rumpf erkennbar.
Nicole mochte es nicht glauben. Hatte der Dhyarra versagt? Oder hatte der Dämon die Magie des Kristalls überwinden können? Sie konnte sich beides nicht vorstellen.
Bevor sie so richtig verstand, was sie sah, grunzte es wieder, und als sie sich nach der Quelle des grauenhaften Geräuschs umwandte, sah sie eine Gestalt mit wirren Haaren und dunkler Samuraikleidung davoneilen. Als die Gestalt in das Licht der übernächsten Straßenlaterne kam und sich noch einmal umdrehte, erschrak Nicole bis ins Mark: Es war eine Figur, die dem Nô-Dämon aus dem Stück Die Alte Einsiedlerin zum Verwechseln ähnlich sah.
Das Gesicht, die weiße Stirn, die Reißzähne.
Und das Schlimmste war, dass diese Gestalt etwas in der Hand hielt. Etwas Rundes. Wie eine Melone im Netz.
Es war ein Kopf. Tanabe-sans Kopf, den das Wesen an den Haaren hielt.
Nicole unterdrückte einen Ausruf des Entsetzens, als die zottelige Gestalt in der Dunkelheit verschwand. Sie starrte hinterher und in der kleinen Gasse hallte auf einmal ein geisterhaftes raues Lachen von den Hauswänden wider.
***
CHAVACH konnte sein Glück nicht fassen.
Nach allem, was er spürte, hatte er nicht einfach nur ein magisches Wesen gefunden und war auf dieses herabgestoßen. Nein. Das hier war mehr als nur ein Mensch, da mochte er so magisch sein, wie er wollte. Das war nichts gegen Alphonsine, nichts gegen den Fotografen, dessen Energie er hatte wieder hergeben müssen.
Es war besser. Viel besser. Machtvoller, bösartiger, grausamer als alles, was er bisher kennengelernt und erspürt hatte. Wieder dachte er mit beinahe zärtlichen Gefühlen an Alphonsine, die ihm das hier erst ermöglicht hatte und bedauerte für einen Moment, dass sie sich selbst die Gelegenheit genommen hatte, an diesem Triumph, den er jetzt empfand, teilhaben zu können. Es
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