0936 - Schattentheater
alleine unterwegs - da ging man nicht in Straßen oder Gassen, in denen einst ein Totenschrein gestanden hatte und in dem immer noch mehrere winzige und halb verwitterte Ujigami-Schreine, den Erdgöttern zu Ehren, beheimatet waren. Nachts, in der Dunkelheit, hielt man sich von diesen Wesen fern, jeder wusste, dass sie dann anfingen, umzugehen und auch harmlose Passanten bestenfalls belästigten, schlimmstenfalls - und das war ja wohl hier geschehen - bösartigere Dämonen und Kami anlockten, damit diese die Reisenden anfielen.
Jeder, der an die Geisterwelt des Shinto glaubte, wusste das.
Minamoto schnaubte und blieb stehen. Hier war die Ecke, an der die Gasse der Kami-Götter abzweigte. Er atmete durch und nahm allen Mut zusammen. Der Dämon hatte hier und heute bereits sein Unwesen getrieben, er würde sicher kein zweites Mal auftauchen. Er rief leise in die unscheinbare und nur schwach beleuchtete Gasse hinein.
»Madame Deneuve?«
Erst hörte er nichts. Für den Bruchteil einer Sekunde kam Minamoto der schreckliche Gedanke, dass die Französin von der deBlaussec-Stiftung etwas mit den Geschehnissen zu tun hatte. Immerhin war ihre seltsame Ausstrahlung von Anfang an spürbar gewesen. Was, wenn sich Tante Ichiko mit ihrer Einschätzung vertan hatte und Julie Deneuve keineswegs eine Kämpferin für das Gute war? Sondern im Gegenteil sich nur diesen Anschein gab, um hintenherum Übles zu bewirken? Minamoto verwarf den Gedanken sofort wieder. Tante Ichiko hatte sich noch nie bei so einer Einschätzung geirrt, dennoch hatte sie das Ihrige getan, um alles Böse sowohl von Julie Deneuve als auch von ihrem ryokan fernzuhalten. Sie hatte ihm den Erfolg ihrer Bemühungen schon vorhin mitgeteilt, als er die Französin zu dem Theaterabend abgeholt hatte, und er selbst hatte bei der Aufführung spüren können, dass die Ausstrahlung Julie Deneuves merkwürdig gereinigt war. Das Seltsame, das ihn am Anfang so irritiert hatte, war verschwunden und sie wirkte eher mit sich im Reinen.
»Madame Deneuve?«
Minamoto versuchte, im trüben Licht der weit voneinander entfernt stehenden Straßenlaternen etwas zu erkennen. »Madame Deneuve!«, rief er wieder.
»Ja, ja, Minamoto-san, ich bin hier«, hörte er jetzt zu seiner Erleichterung die Französin antworten. Sie kam auf ihn zu. »Gut! Ihnen ist nichts passiert?«, fragte er besorgt und betrachtete sie eingehend.
»Nein, glücklicherweise - oder unglücklicherweise für den armen Tanabe-san - bin ich zu spät gekommen«, sagte sie und wies mit einer Hand auf die immer noch in einem purpurfarbenen See aus dickflüssigem Blut daliegenden Rumpf.
Minamoto warf einen prüfenden Blick auf die Leiche, ging jedoch nicht näher heran. Blut und Körperflüssigkeiten waren im Shinto etwas Unreines, und bei allem Mitgefühl, das er angesichts des bedauernswerten Tanabe-san empfand, er hatte kein Interesse daran, damit in Berührung zu kommen. Wozu auch? Der Anblick allein machte deutlich, dass hier jede Hilfe zu spät kam.
»Bitte, kommen Sie mit mir, Madame«, sagte er dann und nahm die Französin am Arm, um sie aus der Gasse der Kami-Götter wegzuziehen. Auch wenn die akute Gefahr vorbei zu sein schien, man musste es ja nicht darauf ankommen lassen. Noch während er sie so am Arm hielt, spürte er wieder, wie schon bereits vorhin im Theater, dass das Seltsame, das sie umgeben hatte, verschwunden war. Dennoch, sie schien aufgeregt, so als wäre doch noch einmal etwas aus ihr herausgebrochen.
Aber das war selbst nach Tante Ichikos Seife auch zu erwarten. Madame Deneuve trägt eine Unruhe in sich, so etwas wird man nicht einfach so los. Fakt ist aber, dass es ihr schon wesentlich besser geht. Ich muss mich noch einmal bei der Tante bedanken. Julie Deneuve selbst scheint nicht gemerkt zu haben, dass gewisse Zauber auf sie eingewirkt haben. Ich hoffe nur, dass die Anwesenheit dieses Toten dieses unbestimmte Element nicht wieder verstärkt und die gute Wirkung der Seife neutralisiert. Er nahm sich vor, Madame Deneuve so schnell wie möglich ins ryokan zu bringen und Tante Ichiko Bescheid zu geben. Vielleicht tat etwas von ihrem zauberkräftigen Tee noch seine Wirkung, die junge Frau hier zu schützen.
Doch sie zögerte und ließ sich nicht so leicht mitziehen. »Aber was ist denn mit der Leiche? Lassen wir die einfach hier liegen?«
Minamoto sah sie offen an. »Madame, ich frage Sie: Was können wir tun? Tanabe-san ist tot. Ich habe bereits die Polizei verständigt, anonym.«
»Wir
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