0937 - Belials Mordhaus
Sie rutschte unter dem Arm ihres Mannes hinweg und ging einen Schritt nach vorn, wo sie stehenblieb und sich umdrehte, den Blick auf die Post gerichtet. »Hast du schon nachgesehen, wer uns geschrieben hat?«
»Ja, aber…«
»John, nicht?«
»Nein.«
»Hm.« Mary ballte die Hand zur Faust. »Dabei hat er uns versprochen, uns hin und wieder zu schreiben. Auch die Anrufe werden immer seltener.«
Horace F. zog ein gequältes Gesicht. »Mary, jetzt hör aber auf. Du weißt doch, mit welchen Problemen sich unser Sohn herumzuschlagen hat. Du weißt genau, wie wenig Zeit er hat. Das sollten wir ihm wirklich nicht zum Vorwurf machen.«
Mary war stur. »Trotzdem sollte er mehr von sich hören lassen, auch wenn er den letzten Jahreswechsel bei uns verbracht hat. Wer weiß denn, wie lange wir noch leben.«
»Bis Venedig wirst du schon noch kommen.«
»So meine ich das nicht, Horace. Denke nur daran, was uns vor einigen Monaten passiert ist. Der Fluch der Sinclairs, wie John gesagt hat. Du weißt es, und du weißt auch, daß es knapp gewesen ist. Wir haben Glück gehabt, daß wir noch leben. Das hätte auch ins Auge gehen können.«
»Aber es ist vorbei.«
Mary merkte, daß ihr Mann nicht mehr darüber reden wollte. »Spielt ja auch keine Rolle mehr«, sagte sie. »Wer hat denn geschrieben?«
»Einmal das Kreditkarteninstitut, dann jemand aus London…«
»Wer?«
»Ein Kollege, ein ehemaliger. Ich weiß nicht, was er will. Vielleicht einen Rat.«
»Und weiter?«
»Reklame.« Sinclair schaute auf den Umschlag. »Das ist ein Gewinnspiel. Du kannst eine Reise gewinnen.«
»Ho! Was denn? Eine Fahrt nach Venedig?«
»Leider nicht. Eine Baggertour durch die Highlands.«
Mary Sinclair fühlte sich zwar nicht gerade auf den Arm genommen, aber sie sagte nur: »Jetzt weiß ich auch, wieso dein Sohn so werden konnte. Ihr Kerle!«
»Wie meinst du das?«
»Dieselbe Antwort hätte auch er mir geben können.«
»Willst du nicht mit dem Bagger durch die Highlands fahren und die Berge mal aus einer anderen Perspektive sehen?«
»Nein, das überlasse ich dir.«
Er reichte Mary den Brief. »Dann wirf ihn weg. Tu so, als hätte es ihn nie gegeben.«
»Mach ich. Was ist mit der anderen Post? Oder darf ich die nicht lesen?«
»Wenn du willst. Ich mache mich jetzt auf den Weg.«
»Wohin?«
»In den Ort. Vergiß nicht, daß wir heute morgen Bürgerversammlung haben. Schließlich bin ich als sachkundiger Bürger in den Rat der Stadt gewählt worden.« Er schaute auf die Uhr, »In einer halben Stunde beginnt die Sitzung, und ich möchte nicht zu spät kommen.«
»Dann will ich dich nicht aufhalten.«
»Okay, wir sehen uns.«
»Was ist mit dem Essen?«
»Heute mittag nicht, Mary. Denk dir was Gutes für den Abend aus, bitte.«
»Ich pflücke dann während der Baggerfahrt den Salat von den Wiesen ab. Wie wäre es damit?«
»Wunderbar, wenn die richtige Soße dazukommt.«
»Nein, den ißt du so.«
Lachend ging Horace F. Sinclair zu seinem Geländewagen, der neben dem Haus stand. Mary schaute ihrem Mann nach. Sie sah, wie er unter der großen Eiche herging, sie sah auch die nicht weit davon entfernt stehende Linde. Beide Bäume verloren bereits die Blätter. Während sie zu Boden fielen und sich miteinander vermischten, dachte Mary daran, daß sich der Herbst nicht mehr aufhalten ließ. Er würde mit Macht über sie herfallen und den Bäumen ihr Kleid nehmen.
Etwas verloren lächelnd ging Mary Sinclair wieder zurück in ihr Haus. Der Herbst war nicht unbedingt ihre Zeit. Sie wurde einfach zu melancholisch, und diese Jahreszeit ließ sie auch wieder an ihr eigenes Alter denken.
Jetzt, wo Horace nicht mehr da war, kam ihr das Haus so einsam und leer vor. Aber auch still, schon beklemmend still, und der Begriff Gruft fiel ihr ein.
In der Diele, wo auf einem Tisch ein großer Herbststrauß in einer breiten Vase stand, blieb sie stehen und spürte eine ungewöhnliche Kälte über ihren Rücken rinnen. Es konnte daran liegen, daß ihr in den Sinn kam, wie leer das Haus immer sein würde, wenn einer von ihnen nicht mehr da war.
Entweder sie oder Horace. Sie wollte sich nicht mit diesem Gedanken beschäftigen, aber er ließ sich auch nicht abschütteln.
Mary öffnet die Küchentür und betrat den großen und zugleich gemütlichen Raum mit der Ofenbank, dem alten Eichentisch in der Mitte und den dazu passenden Möbeln. Sie dachte daran, wie gern ihr Mann und ihr Sohn an diesem Tisch saßen, und auch sie freute sich darüber,
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