0937 - Belials Mordhaus
Tastbewegung erreichte sie eine Stuhllehne und stützte sich daran ab.
Sehr langsam sank sie in die Knie.
Der Mund stand offen, noch immer brannte die Kehle und auch das Innere ihres Körpers. Sie sank nach vorn, stützte sich auf der Platte ab, und dann bewegte sich ihr Kopf auf die Hände zu, die bereits auf dem Tisch lagen.
Schluchzende Laute drangen aus ihrem Mund. Sie weinte, und die Tischplatte wurde für sie beinahe zu einer Wasserfläche, in der sie zu ertrinken glaubte.
Alles war anders geworden. Das Schicksal hatte ihr jeglichen Lebensmut genommen. Es hatte brutal zugeschlagen. Im Kühlschrank hatte der Kopf ihres Sohnes gelegen, blutverschmiert, als wäre das Gesicht durch Bisse zerstört worden.
Nachdenken konnte sie nicht, und so versank sie in ein dumpfes Brüten. Ihre Gedanken schwammen davon, als wollten sie sich mit dem Meer, zu dem die Tischplatte geworden war, vereinigen. Es war einfach alles anders geworden. Innerhalb weniger Minuten hatten sich die Tatsachen grundlegend gewandelt. Nicht sie oder ihr Mann waren ums Leben gekommen, sondern John, ihr Sohn, dessen Kopf im Kühlschrank lag.
In ihrem Kühlschrank.
Sein Kopf!
Mary Sinclair hörte sich weinen und schreien zugleich. Es gab nichts mehr, mit dem sie noch zurechtkam. Es gab auch niemanden, mit dem sie hätte sprechen können. Das Haus war so leer wie eine Gruft, die auf den Toten wartete.
Trotzdem gab es keinen Toten.
Im Kühlschrank lag der Kopf ihres Sohnes. Einfach so - ja, einfach so. Plötzlich konnte Mary Sinclair nicht anders. Sie mußte einfach lachen. Es war ein schrilles, ein unheimliches und auch geisterhaft klingendes Gelächter, das nicht unbedingt von einem Menschen stammen mußte. Ebensogut hätte es eine roboterhafte Maschine abgeben können. Es erfüllte den Raum, es tanzte an Wänden und Fenstern entlang, aber es fand seinen Weg nicht nach draußen und wurde auch von niemandem gehört.
Irgendwann hörte das Lachen auf, denn da hatte sich Mary Sinclair über sich selbst erschreckt.
Sie wurde still - oder fast still, denn das leise Wimmern stammte von ihr und nicht von einer anderen Person. Noch immer hockte sie am Tisch, der Oberkörper bildete vom Stuhl her einen Bogen, der erst mit dem auf der Platte liegenden Kopf abschloß.
Das Holz des Tisches zeigte nasse Flecken dort, wo sich das Tränenwasser verteilt hatte. Mary Sinclair sah es, doch sie nahm es bewußt nicht zur Kenntnis. Sie dachte daran, wie schrecklich allein sie war. Ausgerechnet jetzt war ihr Mann unterwegs und hatte sie mit dem Grauen zurückgelassen.
Der feuchte Schweiß klebte auf ihrem Körper. Noch immer tuckerte es hinter ihrer Stirn. Der Mund zuckte, ihre Glieder zitterten, und Mary wunderte sich selbst darüber, woher sie die Kraft nahm und sich vom Stuhl her in die Höhe stemmte.
Neben dem Tisch blieb sie stehen, allerdings die Hände auf die Platte gestützt.
Das grausame Bild hatte sie geschockt, daran gab es nichts zu rütteln. Sie fühlte sich auch nicht als Masochistin, aber trotzdem wollte sie die Tür des Kühlschranks noch einmal öffnen, um nachzuschauen. Sie wollte von ihrem Sohn Abschied nehmen, obwohl ihr das wirklich schwerfiel, doch sie konnte nicht anders.
In ihrem Körper war ein Automatismus ausgelöst worden, der ihre Beine in Bewegung setzte und die Frau auf den Kühlschrank zutrieb. Dort würde sie nachschauen, hineinsehen, den Kopf noch einmal betrachten und die Tür so schnell wie möglich wieder schließen.
Ihre Knie zitterten. Es war ein Wunder, daß sich Mary auf den Beinen hielt, aber sie war tapfer und biß die Zähne zusammen. Wenn sie sich jetzt gehenließ, brach sie endgültig zusammen, das wußte die Frau. Sie hatte schon viel durchgemacht, was auch mit dem Beruf ihres Sohnes zusammenhing.
Vor dem großen gelblichweißen Gerät blieb sie stehen. Mary starrte den Griff an. Er schwamm, was nicht an ihm lag, sondern an ihren Augen, in denen sich noch immer das Wasser der Tränen gesammelt hatte.
Tief holte sie Luft.
Die Hand näherte sich dem Griff. Die Kälte des Metalls war überdeutlich zu spüren, als würde sie auf der heißen Haut zischen.
Dann der Ruck.
Wie immer.
Das Aufziehen der Tür.
Auch wie immer!
Der Blick in den Kühlschrank.
Auch wie immer.
Normal! Kein Blut, kein Schädel, denn der Kopf ihres Sohnes war verschwunden…
***
Mary Sinclair glaubte zu fallen, wegzuschwimmen. Der zweite Schock hatte sie erwischt. Innerlich war sie darauf eingestellt gewesen, den Kopf ihres Sohnes im
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