094 - Das Mädchen auf dem Teufelsacker
Gewaltsam mußte sie sich davon überzeugen, daß er all dies nicht bewußt oder zumindest aus freiem Entschluß tat.
Yoshi legte ihr kameradschaftlich eine Hand auf ihre Schulter. Sie standen beide unschlüssig da. Dann hörten sie seltsame Geräusche aus dem Zimmer des betrunkenen Lappen. Es waren keine Schnarchlaute mehr, sondern es hörte sich so an, als würde etwas umgestoßen oder auf- und wieder zugeklappt.
Sie blickten in das Zimmer. Peer Makselv war verschwunden, augenscheinlich durch das einzige Fenster. Statt seiner stand ein großer muskulöser Mann mit schwarzem Haar in der Mitte des Raumes, die Beine leicht gegrätscht, das Kinn nach vorn gereckt.
„Unga!" sagte Coco.
„So eine Überraschung!" meinte der Japaner.
In diesem Moment hörte man von draußen einen Schrei.
„Wartet hier auf mich!" sagte Yoshi, dann machte er auf dem Absatz kehrt und lief durch den Flur ins Freie, um nach dem Rechten zu schauen.
Unga lächelte und trat der schwarzhaarigen Frau entgegen. „Ich habe den einarmigen alten Lappen fortgeschickt, weil ich kurz mit dir reden wollte, Coco."
„Du willst dich mit mir unterhalten?"
„Weil, das ist wohl der richtige Ausdruck. Und zwar unter vier Augen. Deshalb habe ich auch noch Yoshi fortgelockt." Er kam ihr sehr nahe. „Ich mag dich ganz gern, Coco…"
„Aber Unga! Was fällt dir ein?"
Er lächelte. „Du darfst mich nicht falsch verstehen. Manchmal habe ich noch Komplikationen, mich richtig auszudrücken, bien?" Er brachte immer noch Ausdrücke aus anderen Sprachen in seine Sätze. „Ich rede als Freund zu dir - wegen Dorian. Du darfst ihn nicht verurteilen."
„Das tue ich auch nicht."
„Er muß sich so verhalten. Er kann nicht anders."
„Ich verstehe."
„All right. Klammere dich also nicht an ihn, sonst fällt es dir eines Tages nur noch schwerer, wenn er dir perdu geht - ich meine, wenn du auf ihn verzichten mußt."
„Unga!"
Er schüttelte den Kopf. „No, no. Dazu muß es ja nicht kommen. Ich sage nur: Dorian muß seinen Weg gehen."
Mit diesen Worten drehte er sich um und winkte ihr noch einmal grüßend zu. Dann kletterte er sehr gewandt aus dem Fenster.
Coco machte keinen Versuch, ihn zurückzuhalten.
Schritte näherten sich. Hideyoshi Hojo, ein wenig außer Atem, trat in den Raum. „Es war der Lappe, der gefallen war und geschrien hatte. Ich half ihm auf. Er riß sich los und torkelte davon. Ich ließ ihn ziehen, weil wir ja doch nichts mehr mit ihm anfangen können."
„Eben."
„Und Unga?"
„Auch fort."
„Was wollte er denn?"
Coco blickte ihn nachdenklich an, aber nur einen Augenblick lang. Ihre Züge entspannten sich wieder. „Yoshi, ich habe keine Lust, mich einfach kaltstellen zu lassen. Komm, wir gehen zu dem ungeweihten Friedhof, um nach Luguris Unterschlupf zu suchen. Unterwegs erzähle ich dir, was Unga mir geraten hat."
Abi Flindt lag auf der Seite. Sein linker, gefesselter Arm war unter dem Körper eingekeilt und schmerzte. Er konnte das Meer nicht nur tosen hören, sondern auch sehen. Tief unter ihm eilten schaumgekrönte Wellen dem düsteren Fels entgegen, teilten sich an Klippen, sprühten hoch, ohne ihn jedoch zu treffen.
Zuerst wollte Abi sich weismachen, daß er träumte. Doch allmählich drang die Erkenntnis in seinen Geist ein: Er lebte, war nicht auf dem Gestein zerschmettert worden, hatte keine Visionen, befand sich nicht auf dem Sprung über die gefürchtete dunkle Schwelle.
Er lebte also. Zwar schmerzte sein Arm, und auch sein Kopf dröhnte entsetzlich, aber er maß dem kaum Bedeutung bei. Die Hauptsache war, daß er sich nichts gebrochen hatte.
Er begann sich zu untersuchen. Es bereitete ihm Schwierigkeiten, sich auf den Rücken zu drehen. Beim ersten Versuch rutschte er etwas ab. Sofort lag er wieder still da, wie eine Mumie. Die Aussicht, doch noch in die Brandung hinabzustürzen, war wenig verlockend.
Abi wandte ganz langsam den Kopf herum und versuchte, sich zu orientieren. Er stellte fest, er lag auf einem schmalen Absatz; keiner Felsbank, sondern eher einer Art Sims. Kaum konnte er daran glauben, daß ausgerechnet ihm das Unglaubliche widerfahren war.
Abi war in den Abgrund gestürzt, doch der Sims hatte ihn gerettet. Wie er das Gleichgewicht hatte halten können, war ihm schier unerklärlich. Für einige Minuten - vielleicht auch nur für Sekunden - mußte er besinnungslos gewesen sein.
Er beschloß, nicht länger zu grübeln. Wichtig war die Tatsache, daß er lebte. Vorsichtig bewegte er sich
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