094 - Der Teufel von Tidal Basin
wirklich ein ehrlicher, aufrichtiger Mensch. Ich kenne ihn seit meiner Kindheit. Ich bin nämlich in dieser Gegend geboren, aber das brauchen Sie niemand weiterzuerzählen. Gregory hat die besten Personalakten sämtlicher Chauffeure Londons - er hat alle Fundsachen ehrlich abgeliefert wie kein anderer.«
»Hinkt er nicht?« fragte Michael.
Mason runzelte die Stirne.
»Ja«, sagte er langsam. »Er wurde einmal von seinem Führersitz auf die Straße geschleudert. Natürlich hinkt er! Merkwürdig, daß ich das vergessen hatte«, meinte er.
»Sie sagten mir, daß der Mann, der Mrs. Westons Wohnung durchsuchte, ebenfalls hinkte.«
»Ja. Ich hatte die beiden allerdings noch nicht in Verbindung gebracht. Aber Gregory Wicks kommt doch überhaupt nicht in Frage!« Mason lachte. »Der Gedanke ist wirklich absurd! Der Mann ist sechsundsiebzig Jahre alt und hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen.«
»Aber der Verrückte in Gallows Alley hat doch gesagt, daß etwas nicht stimmt bei ihm?«
Mason rieb sein Kinn.
»Es gibt viele verrückte Leute, die Theorien aufstellen«, sagte er etwas anzüglich. »Nein, Sie meine ich nicht damit, Michael.«
»Wie wäre es denn, wenn wir einmal den Doktor fragten?«
»Marford? Den kann ich doch nicht mitten in der Nacht aus dem Bett holen, damit er mir die zusammenhanglosen Angaben eines Verrückten bestätigt? Und glauben Sie vielleicht, daß er mir Auskunft über seinen Patienten geben würde? Dazu können Sie einen Arzt niemals zwingen, höchstens wenn er als Zeuge vor Gericht vereidigt wird. Aber auch dann muß man noch sehr vorsichtig sein, weil durch das Berufsgeheimnis gewisse Grenzen gezogen sind. Die Ärztekammer macht sofort einen Heidenspektakel, wenn man etwas zu sehr ins Detail geht.«
»Sie können ihn aber doch unter irgendeinem anderen Vorwand aufwecken«, meinte Michael. »Vielleicht kann er uns bei der Suche nach Rudd behilflich sein.«
Mason vergrub die Hände tief in den Hosentaschen und klapperte nervös mit losem Silbergeld.
»Der Mann, der in Mrs. Westons Wohnung war, hinkte tatsächlich, wenn die Frau von gegenüber die Wahrheit gesagt hat. Und nun fällt mir auch ein, daß Weißgesicht immer gehinkt hat. Das stand in den ersten Personalbeschreibungen, die über ihn ausgegeben wurden. Er benützte ein Motorrad - Michael, das erledigt eigentlich Ihre Theorie.«
»Motorradfahrer sind immer gesehen worden, wenn irgendwo ein Einbruch verübt wurde. Aber niemand kann einen Eid darauf leisten, daß das auch wirklich die Räuber waren. Bedenken Sie auch, daß Motorräder nach einer gewissen Stunde abends unbedingt auffallen müssen! Ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß sich Weißgesicht als Chauffeur eines Wagens davonmachte?«
»Aber es ist doch höchst unwahrscheinlich, daß Gregory zum Verbrecher wurde, nachdem er fünfzig Jahre lang einer der ehrlichsten Chauffeure war. Er hat sich Geld gespart, hat keine Verwandten und Freunde, trinkt und raucht nicht. Niemals hat er etwas Unehrliches in seinem Leben getan. Nein, Michael, ich werde Ihnen sagen, wer Weißgesicht ist - Tommy Furse!«
»Und wer, zum Donnerwetter, ist Tommy Furse?« fragte Mike erstaunt.
»Das erfahren Sie, wenn die Geschichte genügend durchgekocht ist. Im Augenblick heizen wir erst den Herd an.« Er erhob sich rasch. »Ich werde den Doktor anrufen und ihm sagen, daß ich ihn sprechen möchte. Ach, Bray kann das auch erledigen.«
Er öffnete die Tür, rief nach dem Inspektor und gab ihm den Auftrag.
»Sagen Sie ihm, daß ich sehr ängstlich wegen Dr. Rudds geworden bin und ihn deswegen aufsuchen möchte.«
Bray entfernte sich.
»Darf ich mitkommen?« fragte Mike.
»Ja, Sie können mich begleiten. Aber Sie warten besser draußen. Bei einem offiziellen Besuch kann ich Sie nicht gut mitnehmen.«
»Er liebt mich auch nicht besonders«, erwiderte Mike und dachte daran, wie kühl sich Dr. Marford immer gegen ihn benommen hatte.
Als Mason mit Bray und Shale in der Klinik ankam, fand er Marford angekleidet. Der Arzt erzählte ihm, daß er überhaupt noch nicht zu Bett gekommen und eben erst von einem Krankenbesuch zurückgekehrt sei.
»Wegen Dr. Rudd mache ich mir keine großen Sorgen. Ich habe übrigens noch einmal im Krankenhaus vorgesprochen, um zu sehen, ob Mrs. Westen wieder zu sich gekommen ist. Aber da sie schlief, hielt es der Arzt für besser, sie nicht zu stören.«
»Wann wird sie in der Lage sein, eine Aussage zu machen?«
»Wahrscheinlich morgen früh.«
Der Doktor
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