0943 - Herren aus der Tiefe
zu Sekunde. Winkel bogen sich ins Absurde, Kanten verloren ihre Konturen, Linien wurden zu Kurven. Und über alldem lag der Gesang. Ein gutturales Fauchen und Knurren, melodisch und unsagbar bedrohlich zugleich, das lauter wurde, fordernder.
Wie der Jagdruf eines Raubtiers hallte es von den Wänden wider und verlor sich in der Ferne.
Jenny wimmerte in ihren Knebel und reckte den Kopf, so gut es ihre Fesseln zuließen, um die Quelle dieser Angst einflößenden Geräuschkulisse zu erkennen, (Stadtväter das sind die Stadtväter - das weißt du doch selbst Mädchen) doch die Seile raubten ihr jegliche Bewegungsfreiheit. Außerdem konnte sie ohnehin kaum etwas ausmachen, denn die Dunkelheit, die sie umgab, war nahezu undurchdringlich. Irgendwo tanzten Fackeln durch das Chaos und verbreiteten einen Hauch von Helligkeit. Ein Geruch nach Öl und Paraffin mischte sich unter die moderige Luft. Wo immer dies war: Es war kalt hier. So kalt…
Als sie erwachte, hatte sie schon so dagelegen, rücklings auf etwas Hartem, Steinernen fixiert (Altar Mädchen - du weißt es doch also nenn das Ding beim Namen) und sämtlicher Kleidung beraubt. Soweit sie an sich hinab sehen konnte, war ihr Leib mit seltsamen Verzierungen versehen worden: rituell anmutende Malereien, Striche und Symbole auf ihren Armen, ihrem Oberkörper und Gott weiß wo noch. Rote Linien auf zitterndem Fleisch.
Trotz der Eiseskälte war Jenny der Schweiß ausgebrochen. Das blonde Haar klebte ihr auf der Stirn. Ihr Herz raste und ihre Nasenflügel bebten bei jedem neuen panischen Atemzug. Dort, wo die Seile sie berührten, brannte ihr Leib wie Feuer. Hand- und Fußgelenke ihres wie ein großes X aufgespannten Körpers schmerzten, als hätte man sie in siedendes Öl getaucht, und der stinkende Stoff, den man ihr während ihrer Bewusstlosigkeit (deines Todes Mädchen - du kannst unmöglich noch leben) um den Kopf gewickelt hatte, um den versifft schmeckenden Lumpen in ihrem Mund zu halten, war so fest angezurrt und verknotet worden, dass Jennys Mundwinkel aufgeplatzt waren und zu bluten begonnen hatten.
Nein. Sie konnte nicht tot sein. Dafür war die Panik zu real, die Angst zu intensiv. Dies musste die Wirklichkeit sein. Erinnern - sie musste sich erinnern, was geschehen war, dann konnte sie vielleicht ein wenig Ordnung in den Wahnsinn bringen, der sie umfangen hielt.
Der Gesang wurde intensiver. Knirschende Schritte näherten sich ihren Ohren. Es klang, als stakste ein Wesen mit scharfen Krallen über einen steinigen Untergrund. Zischlaute hallten durch das wabernde Dunkel, abgelöst von dumpfen Tönen, die Jenny an Leviathane aus Meerestiefen denken ließen. An Seeungeheuer.
Die junge Frau schrie, als etwas metallisch Kühles ihren Unterschenkel berührte, ihre Wade entlang strich. Sehen! Himmel, wenn sie nur sehen könnte, was dort geschah!
Ein Schemen kam in ihr Blickfeld: eine schwarze klobige Form, nahezu rechteckig. Sie wirkte ausgefranst und schien zu flackern. Wie etwas, das noch nicht vollständig in dieser Realität angekommen war.
Jenny wand sich in ihren Fesseln. Weg, nur weg! Jeder Millimeter, den sie zwischen sich und dieses Ding bringen konnte, war ein Sieg.
Doch der Sieg blieb aus.
Weitere Schemen kamen hinzu, manche so dunkel wie das erste, andere heller, kleiner oder breiter. Und mit einem Mal erkannte Jenny, dass der seltsame Gesang von ihnen ausgehen musste. Die… Wesen hoben Extremitäten, hielten flackernde Balken über ihren Körper, hissten und fauchten. Dröhnende Töne, die Jennys Ohren quälten und nahezu sogar ihren Geist zum Vibrieren brachten.
Weiteres Metall berührte ihren Leib. Kalte, flache Stäbe (Messer sind das - Messer oder Dolche) schienen über sie zu streichen, glitten durch Haare und über Haut. Tödliche Liebkosungen. Irgendwo wurde es heller.
»Sie ist wach.« Eine Stimme, menschlich und männlich, schälte sich aus dem sonoren Klang, der die junge Journalistin umgab. »Und sie ist bereit.«
Jenny grunzte in ihren Knebel, schrie sich die Seele aus dem Leib, doch kaum ein Laut kam über ihre gepeinigten Lippen. Sie war nicht bereit, wofür auch immer, um Himmels willen!
»So lasst die Herren kommen«, hauchte eine weibliche Stimme, rechts von ihr. Eines der Schemen? »Lasst sie teilhaben an dem, was zu geben wir gedenken. Alles für sie.«
Der Mut der Verzweiflung verlieh Jenny Moffat neue Energie. Wenn die Stimmen von den Schemen stammten, dann musste es sich bei ihnen um Menschen handeln, richtig? Menschen,
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