0946 - Angst um Lucy
den Atem heftig aus. Sie hatte gegen einen Schwindel anzukämpfen. Ihre Knie waren aufgeweicht, und nur mühsam konnte sich die Frau auf den Beinen halten.
Lucy war weg! Sie war gegangen. Oder war sie geholt worden?
Donna spürte die Fragen wie Schmerzstiche in ihrem Kopf. Sie fing an, das Zimmer zu durchsuchen. Sie bewegte sich hektisch, ging zum Kleiderschrank ihrer Tochter, riß ihn auf, wühlte in ihren Sachen herum und sah sofort, daß der Wintermantel nicht mehr an seinem Platz hing. Er war verschwunden. Lucy mußte ihn angezogen haben.
»Nein«, sagte Donna, »das kann doch nicht wahr sein.« Tränen stürzten aus ihren Augen. Sie zitterte am ganzen Leib. Sollte dieses Grauen wieder von vorn beginnen? Es lag einige Tage zurück, sie hatten es relativ gut überstanden, auch deshalb, weil die Tarlingtons in ihrer Familie Halt fanden. Nun aber war dieser Halt brutal zerrissen worden.
Lucy war weg.
Einfach so?
Donna konnte sich nicht vorstellen, daß Lucy ihr Versprechen gebrochen hatte. Nein, das tat sie nicht. Sie hatte versprochen, im Haus zu bleiben, und Donna wußte, daß sie sich in dieser Hinsicht auf Lucy verlassen konnte. Wäre sie für mehrere Stunden verschwunden gewesen, hätten die Dinge ganz anders ausgesehen.
»Nicht freiwillig«, flüsterte sie. »Lucy ist nicht freiwillig gegangen.« Während sie diese Worte sprach, entstand vor ihrem geistigen Auge wieder ein Bild.
Sie sah das unheimliche Vampir-Phantom vor sich. Dieses Gebilde des Schreckens. Das Zerrbild aus einer schrecklichen und nicht begreifbaren Welt.
Mit schleppenden Schritten verließ sie das Kinderzimmer. Im Flur blieb sie stehen, den Blick ins Leere gerichtet. Donna wußte genau, daß sie etwas unternehmen mußte, aber sie war blockiert und konnte sich nicht entscheiden, was sie tun sollte.
Lucy ist weg! Es war der eine Satz, der sich immer wieder durch ihren Schädel bohrte. Ihre Tochter war verschwunden, daran kam sie einfach nicht vorbei. Sie war nicht mehr da. Sie hatte sich aufgelöst. Man hatte sie entführt, man hatte sie ermordet, man hatte sie…
»Ich muß Jack Bescheid sagen. Himmel, er muß sofort seine Arbeit liegenlassen und herkommen!« Donna war froh, daß ihr dieser Gedanke gekommen war, denn er lenkte sie zumindest für eine gewisse Weile von der großen Sorge ab.
Stolpernd lief sie die Treppe hinab, schrammte noch mit der Schulter über die an der Wand hängende Weihnachtsdekoration hinweg, die sie fast heruntergerissen hätte, hielt sich am Geländer fest und konnte endlich in die Küche eilen.
Mit zitternden Fingern umklammerte sie das tragbare Telefon.
Zweimal verwählte sie sich, während sie mit den Tränen kämpfte, aber beim drittenmal hatte sie es geschafft.
Glücklicherweise befand sich Jack an seinem Arbeitsplatz. Donna konnte nicht sprechen, als sie seine Stimme hörte. Sie gab nur schluchzende Laute von sich, aber Jack hatte schnell geschaltet.
»Bist du es, Donna?«
Sie nickte.
»He, bist du es?«
»Ja, Jack, ich…«
Tarlington schwieg sekundenlang. Donna konnte sich vorstellen, daß es jetzt in seinem Kopf rotierte. Er war ja nicht dumm, er dachte sicherlich einen Schritt weiter, und das bewies er auch mit der folgenden Frage. »Geht es um Lucy?«
Plötzlich konnte sich Donna nicht mehr beherrschen. Als ihr Mann Lucys Namen erwähnt hatte, da brach bei ihr der Damm. Vorbei war es mit der Selbstbeherrschung. »Ja, ja, ja!« schrie sie. »Es geht um Lucy. Sie ist weg, Jack. Sie ist verschwunden. Sie ist nicht mehr da. Man hat sie geholt, verstehst du?«
»O Gott«, sagte Tarlington nur. »O Gott…«
***
Advent – Vorweihnachtszeit, die Wochen der Besinnung sollten sie eigentlich sein oder sollten es werden, aber die meisten Menschen wurden in dieser Zeit von einer wahnsinnigen Hektik gepackt, die schließlich in einen übergroßen Streß mündete, mit dem sie oft selbst nicht mehr zurechtkamen, Nerven lagen blank und Streit in der Luft. In manchen Familien spielten sich regelrechte Dramen ab.
Die Geschäftsleute kümmerte das nicht. Sie wollten verkaufen und träufelten deshalb durch Musik und Dekorationen das süße Gift des Kitsches und der Melancholie auf die Seelen der Menschen. Erst mußten die aufgeweicht werden, danach die Geldbörsen der Käufer.
An mir prallte dieser Weihnachtsstreß ab. Erstens war ich kein großer Freund davon – obwohl ich gern über Weihnachtsmärkte in kleinen Orten ging –, und zweitens ließ es mein Job einfach nicht zu, daß ich mir beim
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