0946 - Angst um Lucy
zwischen zwei Hände genommen, um sie zu drücken.
»Erinnerst du dich?«
»Ja – stimmt.«
»Er wird dich verfolgen, er will dich. Und wenn du mir noch immer nicht glaubst, dann heb deine Hand und berühre deinen Hals und die Pickel.«
Lucy vertraute der neuen Freundin. Sie tastete sich an die erwähnte Stelle, vor und fühlte unter den Fingerspitzen tatsächlich die beiden Erhöhungen. Am letzten Abend waren sie noch nicht dort gewesen. Sie mußte sie sich in der Nacht geholt haben, wie auch immer.
Um die kleinen Pocken herum war die Haut hart geworden.
»Hast du es gespürt, Lucy?«
»Ja.«
»Und du weißt nicht, woher sie stammen?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Ich kann es dir aber sagen, Kleine. Man hat dich verfolgt. Man war hinter dir her. Du hast einen sehr mächtigen und abgrundtief bösen Feind, kleine Lucy. Es ist der Schatten, der durch die Welten segelt, der es nicht begreifen kann, daß dein Blut verloren ist. Er will es sich holen, er wird dich immer finden und verfolgen, bis er dann brutal zuschlägt, so daß du dich nicht wehren kannst.«
»Ich kann es aber nicht glauben.«
»Aber du kennst ihn!«
Lucy hob die Schultern. »Ich habe ihn im Turm gesehen, glaube ich. Ja, im Turm.«
»Richtig, meine Kleine. Es ist ein Phantom gewesen, ein Vampir-Phantom. Man hat ihn nicht so vernichten können, wie es nötig gewesen wäre. Er gibt nicht auf, er wird dich weiterhin jagen, und er hat es schon einmal geschafft, die Grenze zu überschreiten.«
»Grenze?«
»Er war bei dir.«
Lucy runzelte die Augenbrauen. Sie war etwas durcheinander. So einfach konnte sie den Erklärungen nicht folgen, obwohl sie wußte, von wem ihre Besucherin sprach.
Die Freundin lächelte ihr aufmunternd zu. »Es gibt eben Grenzen, die du als Mensch nicht überschreiten kannst. Aber wenn du jemand anderer bist, und deine menschlichen Unzulänglichkeiten abgelegt hast, wirst du erleben, daß Grenzen doch zu überschreiten sind. Das geht alles wunderbar, denn die Grenzen sind eingerissen. Du wirst dich an andere Welten gewöhnen können, du wirst mit ihnen umgehen, als wärst du darin aufgewachsen, aber das ist nur der Fall, wenn du einen bestimmten Zustand erreicht hast. Du, Lucy, bist noch nicht soweit, und ich möchte nicht, daß du so schnell in diese Lage hineingerätst. Deshalb bin ich gekommen, um dich zu schützen, auch weil die anderen Welten manchmal so fremd, böse und grausam sein können.«
Lucy hatte zwar zugehört, aber kaum etwas begriffen. Sie wollte nicht mehr an den Schrecken im Turm erinnert werden, das alles sollte weit, weit zurückliegen und begraben werden. Sie wollte auch nicht mehr an die blutige Lucy denken, aber ihre Besucherin schien das anders zu sehen.
»Er will mein Blut?« fragte sie.
»So ist es.«
»Dann ist er nicht tot?«
»Ja und nein. Er ist ein Phantom. Er befindet sich in einem anderen Zustand. Aber darüber möchte ich mit dir jetzt nicht sprechen, kleine Lucy. Er hat einen ersten Versuch unternommen. Du hast Glück gehabt, daß es ihm nicht gelang, sich bei dir festzusaugen. Er konnte vertrieben werden, doch das wird nicht immer der Fall sein. Deshalb zieh dich an, denn ich werde dich wegbringen.«
»Wohin denn?«
»Das werden wir sehen, Lucy.«
»Und meine Eltern?«
»Bleiben hier.«
»Sie müssen Bescheid wissen.«
Die Besucherin faßte sich in große Geduld. »Keine Sorge, sie werden alles erfahren, nur nicht jetzt.«
Lucy nickte. Sie wußte, was sie zu tun hatte. Sie bewegte sich, wie von einem Strahl geleitet, auf ihren Schrank zu, in dem auch ein Wintermantel hing. Ihn wollte sie anziehen und nicht die gefütterte Anorak-Jacke, die unten an der Garderobe ihren Platz gefunden hatte. Lucy tat alles wie in einer Trance. Sie bekam gar nicht richtig mit, daß sie die Schranktür öffnete, nach dem Mantel griff, ihn herausholte, um ihn dann überzustreifen.
Sie drehte sich wieder um. Ihre Besucherin stand noch im Zimmer.
Nein, sie schwebte über dem Boden, berührte ihn nicht mal mit ihren nackten Füßen.
»Bist du fertig, Lucy?«
Das Mädchen knöpfte den obersten Knopf zu. »Ja, ich bin fertig. Aber ich möchte dich noch etwas fragen.«
»Bitte.«
»Du bist wie eine Freundin, obwohl ich dich erst so kurz kenne. Ich habe Vertrauen zu dir, ich mag dich, und ich bin auch nicht gegen dich. Aber du bist mir auch fremd.« Sie spielte verlegen mit dem Saum des Mantels. »Ich weiß nicht mal, wie du heißt. Hast du keinen Namen?«
»Ist das denn so
Weitere Kostenlose Bücher