0947 - Geballte Wut
durchsuchte die Umgebung nach ihr. Nicht so. Du allein kommst nicht gegen sie an.
Selbst Merlins Stern hatte angesichts ihrer Macht versagt. Das Amulett hatte nicht einmal reagiert.
Als Anne sich umdrehte, sah er sie. Kathryne stand mitten auf der verlassenen Straße. Rechts und links von ihr brannten umgestürzte Autos, qualmten verkohlte Karosserien, regneten Laternen ihre gleißenden Funken zu Boden. Doch die so jung wirkende Frau ließ sich davon nicht beeindrucken. Ihr Blick galt ganz allein der ungleichen Schwester.
»Das bist nicht du, Anne«, sagte sie eindringlich, ruhig. »Was hier geschieht, entspricht nicht deinem Willen, nicht einmal deiner Natur. Verstehst du das?«
Anne schwieg, das Gesicht eine Fratze des Zorns.
»Wir waren nie zuvor so lange so weit voneinander entfernt«, fuhr Kathryne fort, mit nun fast mütterlicher Stimme. »Schau, was passiert ist. Ich bitte dich, lass uns dem ein Ende bereiten. Lass uns dir helfen. Lass uns wieder eins werden, und ich verspreche dir, alles wird gut.«
Statt einer Erwiderung lächelte Anne kurz, schloss die Augen - einen Sekundenbruchteil später wurde Kathryne von den Füßen gerissen und meterweit in die Pariser Abendluft geschleudert.
Zamorra hörte ihren überraschten Schrei sowie das knackende Geräusch, mit dem sie auf der anderen Straßenseite aufprallte.
»Kathryne!« Rhett sprang aus der Deckung, hechtete zu ihr.
»Alter, nicht!«, rief Dylan ihm nach. Der Kopf des Mittzwanzigers erschien hinter dem noch immer brennenden Renault, doch es war zu spät. Mit wenigen Schritten war Rhett bei seiner Partnerin, kniete sich neben sie und sah nach ihren Wunden. Für Anne hatte er keinen Blick, keine Aufmerksamkeit übrig.
Dylan schaute ihm nach, halb frustriert und halb voller Verständnis, dann zuckte er mit den Schultern und eilte selbst fort, auf Zamorra zu.
»Es ist die Energie von der Cité«, murmelte er, als er neben dem Meister des Übersinnlichen in die Knie ging.
Stützende Hände griffen nach Zamorras Oberkörper, halfen ihm auf die Beine. »Sie nährt Anne irgendwie, macht sie unbesiegbar. Zamorra, was sollen wir tun?«
Er wusste es nicht. »Ich…«, begann er, doch ein wutentbrannter Schrei ließ ihn innehalten, herumwirbeln.
Als sich der Schwindel, mit dem sein Körper die schnelle Bewegung strafte, gelegt hatte, sah er, dass der Fremde, der gebrechliche Gaston, die Deckung verlassen hatte, die er sich mit Thierry Desjardins teilte. Mit dem Mut der Verzweiflung und einem Zorn im Blick, der allein schon hätte töten können, rannte der Alte auf Anne zu, riss sie von den Füßen und stürzte mit ihr zu Boden.
Gaston gebärdete sich wie ein Monster. Wild und unkontrolliert schlug er nach der Angreiferin, als könne er mit Willens- und Muskelkraft ausgleichen, was Zamorras Magie, Merlins Stern , Kathryne und der Erbfolger zusammen nicht geschafft hatten. Und wie sie vor ihm versagte er. Bitterlich.
Anne lachte nur, ließ die Schläge zu. Amüsiert. Dann hob sie die Arme, ergriff den Kopf des Alten mit beiden Händen - und drehte ihn um hundertachtzig Grad. Das Geräusch der zerbrechenden Wirbelsäule klang wie ein Peitschenschlag.
Gaston brach zusammen, blieb leblos liegen.
Anne erhob sich, klopfte sich den Staub von der dunklen Kleidung und nickte Zamorra zu. »Wir sehen uns, Dämonenjäger. Hat Spaß gemacht.«
Danach wandte sie sich um und verschwand inmitten des Chaos, das sie geschaffen hatte, aus seinem Blick.
***
Hissss…
Luft entweicht zischend, und er weiß, dass keine neue kommen wird. Diesmal nicht. Das ist das Ende.
Er sieht die Sterne über sich, ferne Erinnerungen an vergehende Himmelskörper, und fühlt sich ihnen nah. Auch er ist älter, als es den Anschein hat. Auch er entstammt einer anderen Epoche. Und auch er vergeht. Unwiederbringlich.
Sein Körper ist längst nur noch nutzlose Hülle. Kaum einen einzigen Muskel kann er mehr rühren, keine Gliedmaßen fühlen. Da ist nichts, nur noch ein Geist, der nicht aufgeben kann. Der erledigen muss, weswegen er gekommen ist. Bevor auch diese letzte Chance vergeht.
Plötzlich sind sie über ihm: Zamorra, Rhett, Kathryne und Dylan. Selbst dieser Uniformierte beugt sich über sein Gesicht, sieht ihn fragend und besorgt an. Er hält ein Funkgerät in Händen und murmelt etwas hinein, doch Gaston hört nicht, hört gar nichts mehr, außer dem Rauschen in seinen Ohren, das ihm zeigt, wie schnell sein Blut aus seinem geschundenen Leib strömt.
»Rue Cambon«, haucht er
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