0948 - Der Hort der Sha'ktanar
war ihm klar, dass dies mehr eine Vision als ein normaler Traum war. Er erinnerte sich an den Hilferuf, den er aus dem Mund der falschen Nicole gehört hatte. Nun würde er erfahren, worum es bei all dem ging.
Merlin öffnete die Lippen und erklärte: »Wach auf, Zamorra!«
Das Bild des alten Magiers flackerte wie ein schlechtes Fernsehbild.
»Nun mach schon. Wir müssen reden.«
Der Zauberer verschwamm, genauso wie die Jagdhütte. Stattdessen drängte sich das Innere seines Schlafzimmers in sein Bewusstsein. Und mit ihm ein Gesicht, das im Gegensatz zu seiner sonstigen Schalkhaftigkeit ernst dreinblickte.
Dylan McMour.
»Na endlich. Los, aufstehen. Ich muss dir etwas erzählen.«
***
Zur gleichen Zeit
Seit ihrem kurzen Aufenthalt in Frankreich bei Professor Zamorra hatte sich Dunja Bigelows Leben grundlegend geändert. Ihre Tage waren gezählt, das wusste sie. Und so versuchte sie jede einzelne Stunde zu genießen, als sei es ihre letzte - was durchaus der Fall sein konnte. Wie geplant hatte sie ihre Penthouse-Wohnung in New York aufgegeben und sich in ein nettes Ferienhaus in Maine eingemietet. Sie verwöhnte sich mit den ausgesuchtesten Leckereien, ausgedehnten Wald- oder Strandspaziergängen und einem fantastischen Blick auf den Atlantik.
Doch sie musste sich eingestehen, dass es nur beim Versuch blieb. Sie konnte all die Schönheiten und Annehmlichkeiten nicht genießen. Zu bedrohlich schwebte die finstere Wolke über ihr, die ihr der Zukunftsblick prophezeit hatte.
Dunja war die erste Unsterbliche, der der Erbfolger jemals den Weg zur Quelle des Lebens gewiesen hatte. Vor langer, langer Zeit hatte sie dort gegen einen Konkurrenten namens Atrigor um die Gunst kämpfen müssen, einen Schluck des magischen Wassers nehmen zu dürfen. Atrigor, ein ehemaliger Krieger des Lichts beim Gefecht gegen den noch bösen Erbfolger, war ihr körperlich haushoch überlegen, doch dank ihrer Fähigkeit des Zukunftsblicks konnte sie die Auseinandersetzung ausgeglichen gestalten.
Obwohl der Kampf nicht auf Leben und Tod stattfinden sollte, zog sich Dunjas Kontrahent bei einem Sturz eine tödliche Verletzung zu. So durfte schließlich sie vom Wasser des Lebens trinken und gewann die Unsterblichkeit.
Die nun zu Ende gehen sollte.
Ihr Zukunftsblick hatte sie vor nicht allzu langer Zeit ins Château Montagne geführt, wo sie den Meister des Übersinnlichen und Dylan McMour kennenlernte - zwei weitere Auserwählte, die vom Lebenswasser getrunken hatten.
Nach ihrer Vision befand sich auf dem Schloss eine Hülle, die keinesfalls in die falschen Hände geraten dürfe, weil das Dunjas Tod bedeuten würde. Es stellte sich heraus, dass es sich bei dieser Hülle um die zurückgelassene Haut eines geschlüpften Drachen nach einem Entwicklungsschub handelte.
Leider konnten sie nicht verhindern, dass der Druidenvampir Matlock McCain das Überbleibsel in die Finger bekam. Als wäre das nicht schon schlimm genug, musste Dunja feststellen, dass sie den Dieb unter einem anderen Namen kannte. Bei Matlock McCain handelte es sich um niemand anderen als Atrigor, ihren Konkurrenten an der Quelle des Lebens. Er hatte den Jahrtausende zurückliegenden Sturz nicht nur überlebt, sondern inzwischen auch die Seiten gewechselt.
Dunja hatte keine Ahnung, wie es dazu hatte kommen können. Da der Magier Merlin ihr nur kurz nach der Erlangung der Unsterblichkeit das Gedächtnis gelöscht hatte, vermutete sie, dass damals noch etwas geschehen sein musste, von dem der Zauberer nicht wollte, dass es bekannt wurde.
Erst nach dessen Tod begann der Erinnerungsblock langsam zu zerbröckeln. Womöglich hatte Merlin zu Lebzeiten die Blockade regelmäßig erneuern müssen, um sie aufrecht zu erhalten. Als er dies nicht mehr konnte, löste sie sich allmählich auf.
Noch weniger begriff sie allerdings, was Atrigor mit der Drachenhaut wollte und wie das zu ihrem Tod führen sollte. Dennoch, bisher hatte sie sich immer auf den Zukunftsblick verlassen können.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Die Landschaft um das Ferienhaus lag in tiefer Dunkelheit. Trotzdem stand Dunja am Fenster und starrte hinaus. Sie wollte keinesfalls verpassen, wenn sich der gelbe Ball hinter dem Horizont hochschob, um das Firmament zu erklimmen. Denn sie vermutete, dass es ihr letzter Sonnenaufgang werden würde.
Seit sie von Château Montagne geflohen war, um mit sich selbst ins Reine zu kommen, hatte sie immer wieder auf Visionen ihrer Zukunft gewartet. Sie waren eingetroffen,
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