0948 - Der Hort der Sha'ktanar
doch egal, was sie auch gezeigt hatten, besaßen sie doch eine Gemeinsamkeit: Keine bezog sich auf Ereignisse nach einem bestimmten Datum.
Heute!
Die Deutung war so offensichtlich wie schmerzhaft: Dunja konnte nicht weiter in die Zukunft sehen, weil es für sie nach heute keine Zukunft mehr geben würde.
»Ich brauche…«
Dunja zuckte nicht einmal zusammen, als die Männerstimme in ihrem Kopf erklang. Ganz ruhig blieb sie stehen und wartete, was als Nächstes geschah.
»… Hilfe!«
Kaum war die Stimme verklungen, überrollte ein Schwächeanfall ihren Körper wie eine Lawine. Ein ersticktes Stöhnen kämpfte sich aus ihrer Kehle. Sie wankte. Sank auf die Knie.
Tränen rannen ihr über die Wangen. Tränen des Schmerzes, der Trauer und des Entsetzens. Denn obwohl sie in diesen Sekunden nicht fähig war, klar zu denken, begriff sie in ihrem Unterbewusstsein, was gerade geschah.
Es geht los! Das Ende ist nah.
Durch ihre Adern schien nicht länger Blut zu fließen, sondern langsam erstarrendes Wachs. Hitzewellen jagten ihr den Schweiß auf die Stirn, gefolgt von eisiger Kälte und Millionen gefrorener Nadeln, die ihre Haut traktierten.
Mit der Kälte kamen die Bilder. Und Geräusche, Gerüche. Gedankenfetzen. Der Zukunftsblick hatte eingesetzt.
Ein Geschöpf mit struppigem, verfilztem Fell, dürren, von einem bräunlichen Flaum überzogenen Beinen, deren nach hinten gerichtete Knie den Bewegungen etwas Vogelhaftes verliehen. Der Kopf vollständig kahl. Kohleschwarze regungslose Augen voller Hass. Ein Name: Njhugjr.
Ohne Zweifel ein Dämon. Wer war er? Was hatte er mit ihrem Schicksal zu tun? Oder mit Atrigor?
Eine unsichtbare Faust rammte sich in Dunjas Bauch. Sie krümmte sich zusammen, schluchzte.
Wie aus dem Nichts tauchte der Name Steigner in ihrem Bewusstsein auf. Ein Dämonenjäger? Auf der Jagd nach Njhugjr? Er besiegelte ihr Ende.
Dunja verstand nicht.
Und dann! Dort! Hoffnung. Die letzte Möglichkeit für sie, doch zu überleben: der Hort der Sha'ktanar.
Sie erkannte nicht, worum es sich dabei handelte, aber sie sah Atrigor.
Ihr Konkurrent an der Quelle. Er besaß die Drachenhaut. Zusammen mit Steigner bedeutete diese für Dunja den Tod.
Atrigor hob die Arme und zu seinen Füßen brach die Erde auf. Ein Meer aus Schlamm und Teer, aus Schmerz und Tod tat sich auf, überspülte den Hort und schwemmte ihre letzte Hoffnung davon. Am Ufer stand der triumphierende Atrigor und lachte.
Da erreichte die Sturmflut auch Dunja und spülte sie in eine tiefe, dunkle Ohnmacht. Zwei Worte bildeten ihre letzten Gedanken.
Atrigor! Warum?
***
Aus dem Leben eines gescheiterten Auserwählten – vor vier Monaten
McCain schob sich mit dem Mädchen als Schild seitlich voran, bis er vor dem Bett stand, auf dem die Haut des Drachen lag.
In der Ecke kauerte Duuna, schaute den Druidenvampir mit großen Augen an und schüttelte immer wieder den Kopf. In ihrem Blick lag jedoch auch noch etwas anderes. Erstaunen. Fassungslosigkeit.
Sie hat mich erkannt , dachte McCain. Was mag gerade in ihr vorgehen? Wie fühlt man sich, wenn man plötzlich dem Mann gegenübersteht, den man vor langer Zeit zum Sterben hat liegen lassen, um die Unsterblichkeit zu erlangen?
Doch das lag in tiefer Vergangenheit. Was interessierte ihn nun noch, dass Duuna damals den Kampf gewonnen hatte? Um die Unsterblichkeit beneidete er sie nicht, denn die hatte er längst selbst erhalten.
Ihm blieb keine Zeit, das Wiedersehen gebührend zu »feiern«. Für ihn zählte im Augenblick nur die Drachenhaut.
»So ist es brav!« Er riss den Blick von seiner früheren Konkurrentin und sah wieder zum Erbfolger. Ihn durfte er nicht aus den Augen lassen.
McCain erreichte das Bett. Mit Wucht stieß er seine Geisel von sich weg. Sie taumelte auf den Llewellyn zu, der sie gerade noch auffangen konnte. Beinahe hätte sie ihn umgerissen.(Für die näheren Umstände dieses Diebstahls sei dem geneigten Leser PZ 938: »Rabenherz« zur Lektüre empfohlen.)
Bevor der Erbfolger die Situation erfasste, schnappte sich der Druidenvampir die Drachenhaut, schloss die Augen, konzentrierte sich und erschien nur einen Gedanken später in der deutschen Fischerhütte, die er derzeit als sein Versteck benutzte.
Geschafft! Die Drachenhaut gehörte ihm. Und nun hoffte er inständig, dass sie ihm half, seine Bestimmung zu erfüllen.
Er hatte einen langen, beschwerlichen Weg zurücklegen müssen, bis er diesen Punkt erreicht hatte. An der Quelle des Lebens war er als Atrigor
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