0948 - Der Hort der Sha'ktanar
geworden zu sein. Lieber wollte er weiter die ungetrübte Illusion der Zweisamkeit genießen.
Was hatte ihm die falsche Nicole mit ihren Worten sagen wollen? Warum war ihm überhaupt klar, dass er träumte? Wurde er von außen gesteuert?
Bei diesem Gedanken erstarrte er und versuchte aufzuwachen. Es gelang ihm nicht.
Um ihn herum schälten sich Menschen aus dem Nichts. Ein düsterer, feuchter, nur vom Flackern der Fackeln erleuchteter Raum nahm Gestalt an. Mit einer Klarheit, wie sie Träumen eigen war, wusste er plötzlich auch wo und wann er sich befand.
Lemuria, Tausende von Jahren nach der Entstehung der Erbfolge. Dank einer geistigen Zeitreise hatte Zamorra vor Monaten die Ursprünge dieser bis in die heutigen Tage reichenden Linie miterleben können. Alleine an den Gesichtern der Anwesenden konnte der Professor erkennen, dass sich seit damals viel verändert haben musste.
Außer ihm hatten sich fünf Männer um einen schlichten Holztisch versammelt. Eingefallene Wangen und tief in den Höhlen sitzende Augen ließen sie ausgezehrt und leidend wirken. Ihre Bekleidung bestand aus einfachem, grobem Tuch, das schon kratzte, wenn man es nur ansah. Zamorra wusste zwar instinktiv, dass er sich in der Gesellschaft lemurischer Priester befand. Von der prunkvollen Kleidung, die er von seinem letzten Besuch kannte, fehlte jedoch jede Spur.
Trotz seines weißen Anzugs fühlte sich der Dämonenjäger nicht deplatziert in der Runde. Er machte sich auch keine Gedanken darüber, wie die anderen ihn sahen oder ob sie ihn überhaupt wahrnahmen. Schließlich befand er sich in einem Traum! Und die gehorchten stets ihrer eigenen Logik, selbst wenn man sich des Träumens bewusst war.
Der Geruch nach Exkrementen und Fäulnis verpestete die Luft und drehte den Anwesenden beinahe den Magen um. Dennoch hatten sie den Treffpunkt in der alten Kanalisation mit Bedacht gewählt, erschwerte der Gestank es doch auch den Dämonen, die rebellischen Priester zu erschnuppern.
»Sie müsste schon längst da sein!«, flüsterte Zamorra.
Ihm fiel auf, dass er sich seiner selbst immer weniger bewusst wurde und tiefer in seine Traumrolle sank. Er ließ es geschehen. Denn offenbar wollte ihm die Macht, die ihn aus der Zweisamkeit mit Nicole gerissen hatte, etwas zeigen. Nur noch dunkel erinnerte er sich an den Hilferuf aus ihrem Mund. Und plötzlich zählte nur noch…
... der Kampf gegen den Erbfolger.
»Wir müssen geduldiger sein als unsere Vorfahren«, entgegnete Svern von der anderen Seite des Tisches. »Wir dürfen nicht die gleichen Fehler begehen wie sie, wenn wir erfolgreich sein wollen.«
Alle nickten - und wussten doch zugleich, wie schlecht die Aussichten auf einen Erfolg tatsächlich standen.
Stille kehrte ein, vom steten Geräusch tropfenden Wassers eher noch verstärkt als durchbrochen. Zamorra hasste diesen unterirdischen Raum, der den Kanalisationsarbeitern längst vergangener Zeiten als Versammlungsort gedient haben mochte. Inzwischen waren weite Teile dieses Labyrinths aus Gängen, Gräben und Tunneln eingestürzt und dienten nun unzähligen Ratten oder verwilderten Katzen als Heimat.
Den Göttern sei Dank - eine Formulierung, die man im Lemuria dieser Tage besser nicht benutzte, wenn man seine Zunge behalten wollte - umgaben ihren Treffpunkt von zwei Seiten Felswände, sodass die Einsturzgefahr nicht gar so groß war. Außerdem besaß er zusätzlich zu dem regulären Eingang noch einen Durchbruch in einer der anderen Wände. So blieb ihnen ein Fluchtweg offen, falls die Kreaturen des Tyrannen sie aufspürten.
Ihre Zusammenkunft ging weit über ein harmloses Treffen hinaus. Sie planten die Ermordung des Erbfolgers. Wie schon so viele Generationen vor ihnen. Doch im Gegensatz zu diesen würden sie nicht scheitern!
Bereits der erste Erbfolger hatte seine Bosheit bewiesen, als er sich zum Herrn über die Stadt Hysop aufgeschwungen hatte. Und doch hatte es sich nur um einen faden Vorgeschmack dessen gehandelt, was noch auf Lemuria zukommen sollte. Stracen Zaer'hysop Chlue'chlyn, wie der Name des ersten aus einer langen Reihe gewalttätiger Herrscher lautete, erreichte zwar nur ein Alter von siebzehn Jahren. Doch neun Monate vor seinem Tod zeugte er einen Sohn, der genau in dem Augenblick zur Welt kam, als sein Vater starb.
Seitdem ging die Legende, dass Stracens Seele in den Körper seines Sohns Okram übergewechselt war. Angeblich hatte ihm der Pakt mit einem mächtigen Dämon diese Art der Unsterblichkeit
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