0949 - Das Kind, das mit den Toten sprach
daß die Mutter Furcht vor ihrer eigenen Tochter hat? Können Sie das nachvollziehen?«
»Bisher nicht.«
»Weil Sie keine Tochter haben, Mr. Sinclair?«
»Auch deshalb.«
Ellen lachte mich scharf an. »Sie werden schon erleben, was da mit Marion passiert. Sie wird reden, aber sie spricht nicht mit sich selbst, sondern mit einer Person, die für einen Außenstehenden nicht sichtbar ist. Für sie schon.«
Ich räusperte mich, bevor ich sagte: »Wenn es jemand ist, mit dem sie redet, müßte doch herauszufinden sein, wie diese Person heißt. Oder finden Sie nicht?«
Ellen schaute mich für eine Weile an. »Ja, Mr. Sinclair, da haben Sie im Prinzip recht. Aber es ist trotzdem anders.«
»Wie anders?«
»Ich war nicht konsequent genug.«
»Mit anderen Worten, Sie haben nicht gefragt.«
»Doch, das schon, wofür halten Sie mich? – Ich erhielt aber keine Antwort. Oder eine, die mir nicht gefallen konnte. Es war ein Blick wie eine Eisdusche! Meine Tochter zeigte sich plötzlich völlig verändert. Haßerfüllte Blicke schoß sie in meine Richtung ab, auf ihre Mutter, begreifen Sie das?«
Wieder blickte Ellen auf die Uhr. »Es müßte gleich soweit sein.«
Auch ich schaute auf das Zifferblatt.
Genau Mitternacht. Die Tageswende. Eine Zeit zwischen dem alten und dem neuen Tag. Von nun an begann die Stunde, über die schon so viel geschrieben und spekuliert worden war, und das nicht nur in unserer europäischen Geschichte, auch in den anderen Kulturen hatte dieser Zeitraum eine schon magische Bedeutung.
Ich glaubte auch, das ferne Anschlagen einer Kirchenglocke zu hören. Sehr dünn erreichte das Geräusch meine Ohren. Ellen Bates schien es nicht gehört zu haben. Sie war bis an die Kante der Sitzfläche vorgerutscht und schaute starr gegen die Tür zum Zimmer ihrer Tochter.
Dahinter blieb noch alles ruhig, aber Ellen wollte nicht mehr so lange warten. Sie stand auf und bewegte sich auf Zehenspitzen durch das Zimmer.
Ein Geräusch hörte ich nicht. Ellen kannte sich aus. Sie hielt die Augen leicht geschlossen, ihre Lippen waren noch fester zusammengepreßt. So wie sie sah nur jemand aus, der sich wahnsinnig konzentrierte. Dann war sie soweit und schob die Tür auf.
Wirklich nur ein winziges Stück. Als der entsprechende Spalt entstanden war, ließ sie die Klinke sofort los, trat einen Schritt zurück und winkte mir zu.
Auch ich erhob mich und ging ebenso leise durch den Raum, wie Ellen es getan hatte. Neben ihr blieb ich stehen. Sie reckte sich, um mir ins Ohr flüstern zu können. »Gleich, Mr. Sinclair, werden Sie es hören.«
»Kann ich nicht zuvor einen Blick in das Zimmer Ihrer Tochter werfen?«
»Nein, bitte nicht, das würde Marion nur stören.«
»Okay, wie Sie wollen. Es ist Ihre Wohnung.«
»Sie werden es erleben, Mr. Sinclair. Ganz sicher. Warten Sie nur ab.«
Das Versprechen hatte ich schon einige Male gehört, nun aber trat es ein. Ellen Bates zuckte zusammen, als sie die ersten Worte hörte.
»Hallo, da bist du ja wieder. Ich grüße dich…«
Ellen klammerte sich an mir fest. »Das ist Marion, die gesprochen hat!« zischelte sie. »Meine Tochter. Es – es hat geklappt, Mr. Sinclair. Sie redet wieder mit der anderen.«
Ich nickte nur und wartete ab. Auch mich hielt eine seltsame Spannung umklammert, obwohl eigentlich nichts passiert war und die Worte recht harmlos geklungen hatten. Wir beide warteten auf eine Antwort, aber wir warteten vergebens. Die andere Person oder Stimme meldete sich nicht. Dafür sprach Marion.
»Geht es dir gut?«
Stille!
»Das ist gut, Caroline!«
Zum erstenmal war ein Name gefallen. Neben mir nickte Marion Bates heftig. »Caroline«, hauchte sie. »Verdammt noch mal, Caroline! Das ist es doch gewesen. Das ist die Person, mit der meine Tochter Kontakt aufgenommen hat. Sie haben es selbst gehört, nicht wahr? Caroline, mehr nicht. Nur einfach Caroline. Keinen Nachnamen.«
»Kennen Sie denn eine Caroline? Taucht der Name im Kreise der Freundinnen auf?«
»Überhaupt nicht, Mr. Sinclair. Es gibt zahlreiche Namen, ich kenne sie alle. Aber es gibt keine Caroline. Nicht mal ein Mädchen, das so ähnlich heißt.« Sie schielte wieder auf den Türspalt. »Diese Caroline ist mir fremd, aber sie ist meiner Tochter so wahnsinnig vertraut. Den Grund kann ich auch nicht nennen. Das ist verrückt. Da stellen sich Dinge auf den Kopf.«
»Nein, ich bin allein, Caroline.«
Die Stimme der Tochter ließ Ellen Bates verstummen. Ich beobachtete die Frau, die ihre Stirn
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