0949 - Das Kind, das mit den Toten sprach
Spiegel hat etwas an sich, das man schlecht in Worte kleiden kann. Es ist aber genau zu spüren, wirklich. Ich merke es immer deutlicher.«
»Meinen Sie?« flüsterte Ellen.
»Bestimmt.«
»Aber was soll er denn haben? Für mich ist der Spiegel nichts anderes als ein Stück Erinnerung an meinen verflossenen Mann. Ich wollte ihn gar nicht haben, aber Marion war nicht zu bremsen. Sie hat darauf bestanden, den Spiegel zu bekommen.«
»Ich liebe ihn auch!« rief das Mädchen.
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte ich. »Spiegel haben oft etwas Geheimnisvolles an sich. Wenn man hineinschaut, kann man das Gefühl haben, in eine andere Welt oder aber einfach nur hinter die normalen Dinge zu schauen.«
»Ja…?«
Marion hatte nur dieses eine Wort gesagt. Aber die Dehnung darin war für mich so etwas wie eine Warnung gewesen. Sie schien zu ahnen, daß ich der eigentlichen Wahrheit auf der Spur war, was ihr natürlich nicht passen konnte.
»Bestimmt.«
»Kennen Sie sich aus, Mister?«
»Ein wenig schon. Zudem liebe ich Spiegel, gerade diese außer-und ungewöhnlichen.«
»Er ist normal, Mister. Er ist völlig normal. Ich benutze ihn, wenn ich morgens aufstehe und mein Haar durchkämme. Dann stelle ich mich vor ihn.«
»Würde ich an deiner Stelle auch tun, Marion«, sagte ich. Bevor sie protestieren konnte, war ich so dicht an den Spiegel herangetreten, um nur die Hand ausstrecken zu müssen, dann glitten meine Finger über die Fläche hinweg.
Ich spürte sie genau. Die Fläche war nicht ungewöhnlich. Sie hatte die Härte der handelsüblichen Spiegel. Nichts ließ sich eindrücken, alles war stabil. Trotzdem regte sich das Mädchen auf, als es sah, daß ich den Spiegel berührte.
»Laß ihn los!« keifte Marion. Sie schnellte jetzt hoch, um auf mich zuzulaufen, aber im Weg stand ihr Ellen, die blitzartig zupackte und ihre Tochter festhielt.
»Was ist denn mir dir, Kind? Meine Güte, du bist ja wie besessen!«
Marion stemmte sich gegen den Griff. Sie wollte sich mit aller Gewalt loszerren. Sie war wütend. Sie keuchte, sie trampelte, und ihre Mutter hatte große Mühe, sie zu bändigen.
Ich war wieder zurückgetreten. »Ist ja schon gut, Marion, ist ja schon gut. Sorry.«
Das Mädchen erschlaffte. Ellen ließ ihre Tochter los. Durch die wilden Bewegungen hatte sich das Haar gelöst, das bisher durch die Schleife festgehalten worden war. Wie ein blonder Wall reichte es bis auf die Schultern. »Er soll verschwinden. Das ist mein Spiegel. Er hat nichts daran zu suchen, Mummy, verstanden?«
»Ja, du hast laut genug gesprochen. Nur begreife ich nicht, was das soll. Ist dieser Spiegel denn ein Heiligtum oder…?«
»Ich habe ihn von Dad bekommen.«
»Das bestreitet niemand. Aber deshalb brauchst du dich doch nicht so anzustellen.«
Marion funkelte ihre Mutter an und trat mit dem Fuß auf. »Es ist das einzige, was mir von meinem Vater geblieben ist. Abgesehen von der Erinnerung und einigen Fotos. Ich will nicht, daß ein Fremder diesen Spiegel berührt, auch wenn dieser Typ ein Bekannter von dir ist. Hast du gehört, Mummy?«
»Ja, du hast laut genug geredet, Marion. Aber ich muß auch sagen, daß ich mich für dich schäme. Was soll mein Gast von einem Mädchen halten, das sich derart aufführt? Du hast dich wie eine Furie benommen. Es gab keinen Grund, so überzogen zu reagieren; das finde ich wirklich nicht gut.«
»Es ist mein Spiegel!«
»Das bestreitet auch keiner. Es ist auch dein Stuhl, dein Regal, dein Bett, aber deshalb darf man es doch anfassen.« Mutter und Tochter standen sich gegenüber wie Kampfhennen, aber sie sprachen bereits wieder ruhiger.
Auf mich achteten sie nicht. Ich war froh, daß ich in Ruhe gelassen wurde, so konnte ich meinen zweiten Test in die Tat umsetzen. Für mich stand fest, daß dieser Spiegel, der zwar so normal aussah, nicht so normal war. Da steckte einfach mehr dahinter. Er mußte eben ein »besonderes« Geschenk des Vaters sein, und mich wollte der Gedanke nicht loslassen, daß ich mit Spiegeln schon gewisse Erfahrungen gesammelt hatte, deshalb war meine Reaktion auch nicht überzogen.
Die beiden stritten noch immer. Ich bekam Zeit, das Kreuz hervorzuholen. Es lag normal auf meiner Handfläche. Nichts zeigte an, daß sich in meiner unmittelbaren und sichtbaren Umgebung eine Gefahr aufhielt, aber das konnte sich rasch ändern.
Die rechte Hand mit dem Kreuz näherte sich dem Spiegel. Ich wollte mich nicht hektisch bewegen, um nicht aufzufallen, doch ich fiel auf. Es
Weitere Kostenlose Bücher