0949 - Das Kind, das mit den Toten sprach
Verwirrung von der Seele.
So erfuhr ich von den beiden Mädchen, die aus dem Fahrstuhl gestiegen waren und das Haus verlassen hatten. Der Hausmeister hatte sie aufhalten wollen, was ihm jedoch nicht gelungen war, denn er hatte sich unter dem Blick der Schwarzhaarigen wie hypnotisiert gefühlt.
»Als ich dann wieder richtig bei mir war, Mr. Sinclair, da habe ich die beiden nicht mehr gesehen. Sie waren verschwunden, und ich schwöre Ihnen, daß sie hier im Haus nicht wohnen.«
»Da haben Sie recht.«
»Pardon, aber das hört sich an, als wären Ihnen die beiden bekannt.«
»Schon möglich.«
»Dann ist es wohl in Ordnung…«
»Nein, nein«, unterbrach ich ihn, »nicht so, wie Sie denken. Sie können sich aber noch gut erinnern.«
»Sicher.«
»Deshalb möchte ich gern von Ihnen wissen, ob die beiden Mädchen einen ovalen Spiegel mit Blattgoldrahmen bei sich gehabt haben. Können Sie sich daran erinnern?«
»Spiegel, sagen Sie? Nein, Mr. Sinclair, nein. Daran kann ich mich nicht erinnern. Das wäre mir gerade bei Kindern oder Jugendlichen aufgefallen. Nur einen Koffer hatten sie bei sich.«
»Welche Farbe?«
»Braun, glaube ich. Aber relativ hell.«
»Danke, damit haben Sie mir schon geholfen.«
»Tja, wenn es dann so ist…« Er fing an zu stottern, und ich bedankte mich noch einmal, bevor ich auflegte.
Shao hatte zugehört und sich aus meinen Antworten ein Bild machen können. »Zwei Mädchen also«, sagte sie, »beinahe noch Kinder. Dann wissen wir ja Bescheid.«
»Noch nicht ganz«, meinte ich und erreichte mit schnellen Schritten mein Schlafzimmer. Ich wollte nicht noch mal den Spiegel suchen, sondern nach einem meiner Koffer schauen. Dieser braune Koffer lag nicht auf dem Schrank, er war derjenige, den ich immer schnell packte, wenn es mal brannte. Er stand stets neben dem Schrank.
Da stand er nicht mehr, er war weg!
Ich drehte mich langsam um. Shao stand auf der Schwelle und schaute mich fast traurig an. »Es waren die beiden Mädchen, nicht wahr, John?«
Ich wischte müde über meine Stirn. »Jetzt glaube ich es mittlerweile auch…«
***
»Der Mann hat ja nichts mehr getan, um uns aufzuhalten«, sagte Marion Bates.
»Ich weiß.«
»Und er läuft auch nicht hinter uns her.«
»Stimmt.«
Marion schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht fassen, drehte sich noch zweimal um, aber der im Licht der Wintersonne liegende Eingang blieb leer. Das helle Licht der Strahlen spiegelte sich auf dem Glas und zauberte vor das Haus eine andere Welt.
Caroline ging zügig weiter. Sie trug den Koffer mit dem Spiegel so locker, als hätte dieser überhaupt kein Gewicht. Dabei lächelte sie noch, als wären ihre Gedanken irgendwie auf die Zukunft programmiert, die ihnen beiden gefallen konnte.
»Wir nehmen jetzt ein Taxi, nicht?«
»Es bleibt dabei.«
»Auch ohne Geld?«
»Der Mann wird uns schon fahren, keine Sorge.«
Ja, das wird er, dachte Marion, denn mittlerweile traute sie ihrer Freundin alles zu. Obwohl sie die viel zu große Jacke um ihren Körper geschlungen hatte, fror sie, denn trotz der Sonnenstrahlen war es ziemlich kalt.
Beide Mädchen hatten rasch die Umgebung des Hochhauses verlassen und gerieten in eine Geschäfts- und Wohnstraße, wo auch Taxen warteten. An einen Fahrer gerieten sie diesmal nicht, sondern an eine Frau, die überrascht ihre Zeitschrift sinken ließ, als die beiden Mädchen an ihrem Wagen erschienen.
»Was wollt ihr denn?«
»Fahren.«
»Zwei Kinder?«
»Wir sind keine Kinder mehr«, sagte Caroline. »Nehmen Sie uns nun mit oder nicht?«
»Habt ihr denn Geld?«
»Nein!«
»Dann haut ab, aber schnell!«
Das taten Caroline und Marion nicht. Marion hielt sich mehr im Hintergrund auf, während ihre Freundin sich mit der Fahrerin beschäftigte. Sie starrte die Frau an, die es nicht schaffte, dem Blick auszuweichen. Ihr erging es ebenso wie dem Hausmeister. Da war eine andere Kraft, die plötzlich über sie kam und sie zu einem willenlosen Werkzeug machte.
»Steigt ein!«
Zuerst lud Caroline den Koffer auf den Rücksitz. Neben ihn sollte sich Marion setzen. Danach stieg Caroline ein. Sie fand ihren Platz neben der Fahrerin und flüsterte ihr das Ziel zu.
Die Frau nickte. Sie startete und rollte langsam aus der Lücke, um sich in den rollenden Verkehr einzuordnen. Caroline aber lächelte vor sich hin, und sie lächelte auch noch, als sie sich umdrehte und ihre Freundin ansprach.
»Ging doch gut – oder?«
»Ja, doch, wirklich.«
»Da siehst du es.«
Marion
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