0949 - Die geronnene Zeit
taub, stumm, ohne jegliche Gefühle. Nur ein Geist, der sich seiner selbst bewusst war.
Doch mit einem Mal flammte ein Licht in der Dunkelheit auf. Sie konnte ihren Körper wieder spüren, vermochte zu sehen, zu hören, konnte sprechen.
Was sie sah, war dieser idyllische Ort im Shevnaron-Gebirge.
Was sie hörte, waren die Stimmen Merlins und eines ihr unbekannten Jungen.
Was sie sprach, war: »Was bei den Göttern ist geschehen?«
Merlin erklärte ihr, dass sie jahrelang im Koma gelegen hatte. Er hatte sie von ihrer tödlichen Verletzung heilen wollen, was ihm auch gelungen war. Doch die Vergiftung war zu weit fortgeschritten, um sie erwachen zu lassen. Sie alle vermuteten, dass sie bis zu ihrem Tod das Bewusstsein nicht wiedererlangen würde.
Doch dann entdeckte der Magier die Quelle des Lebens und suchte dafür einen Wächter. Oder eine Wächterin. Sofort dachte er an Assara, denn er glaubte, dass sie dank der belebenden Nähe der materialisierten Sha'ktanar-Seelen aus dem Koma erwachen könnte. Gemeinsam mit Kesriel schaffte er sie hierher.
Kesriel!
Sie konnte es nicht glauben. Dieser Junge war der neue Erbfolger, der auf der Seite des Guten stehen sollte. Schwer zu fassen für eine Frau, die aus ihrer Sicht noch gestern gegen die böse Ausgabe gekämpft hatte.
Wenn Assara Merlin richtig verstanden hatte, musste der Bursche in jeder seiner Inkarnationen einen oder mehrere Auserwählte zur Quelle bringen, wenn er selbst seine besondere Art der Unsterblichkeit behalten wollte. Ihre Aufgabe war es dann, darauf zu achten, dass immer nur einer der Kandidaten vom Lebenswasser trank.
»Aber warum nur einer?«, fragte Assara. »Wieso nicht alle? Dadurch gäbe es doch mehr Kämpfer gegen das Böse!«
Merlin sah sie nur grimmig an und meinte: »Du sollst über die Quelle wachen, nicht ihre Regeln hinterfragen!«
Dann überreichte er ihr einen goldenen Kelch.
Sie zögerte, ihn an sich zu nehmen. »Ich will nach Hause«, sagte sie stattdessen. »Zu Atrigor!«
»Das ist leider nicht möglich«, erwiderte der Magier. »Nur die Nähe zum Seelenteich hält dich wach und am Leben. Eine Rückkehr in die Welt, die du kennst, ist völlig ausgeschlossen.«
»Aber Atrigor…«
»… war damit einverstanden, dass du diese Aufgabe übernimmst!«
»Ich werde ihn nie wieder sehen?«
»Wer weiß, was das Schicksal für euch bereithält.«
Dann hatten der Magier und der Erbfolger die Quelle des Lebens verlassen. Seitdem stand sie hier und wartete darauf, dass der erste Auserwählte kam.
Wie viel Zeit war vergangen? Wie viel würde noch vergehen?
Merlin hatte ihr erklärt, dass Zeit an diesem Ort keine große Rolle spielte, dass es so etwas wie ein Jetzt, Gestern oder Morgen nicht gab. Warum fühlte es sich für sie dann so an?
»Daran wirst du dich im Laufe der Zeit gewöhnen und es begreifen lernen!« War seine Formulierung Absicht gewesen oder hatte er den Widerspruch darin selbst nicht bemerkt? Im Laufe der Zeit…
Und dann standen nach sekundenlangen Stunden, nach jahrelangen Augenblicken plötzlich zwei Menschen vor ihr. Sie hatte sie nicht kommen sehen.
Die Neuankömmlinge - eine Frau und ein Mann - wandten ihr den Rücken zu und hatten sie noch nicht entdeckt. Sie atmete noch einmal tief durch und konzentrierte sich auf die Rolle, die zu spielen Merlin ihr aufgetragen hatte. Nervös strich sie die rote, reich bestickte Robe glatt, die vor ihrem Leib auseinanderklaffte. Darunter trug sie bis auf einige durchsichtige, um ihren Körper geschlungene Stoffstreifen nur den rituellen Chaffra'tyn, einen mit Edelsteinen versetzten goldenen Halsschmuck.
»Herzlich willkommen an der Quelle des Lebens «, sagte sie schließlich.
Die beiden Auserwählten drehten sich um und Assara stockte der Atem.
Die Frau war ihr gänzlich unbekannt. Den groß gewachsenen Mann mit den schulterlangen schwarzen Haaren, die er mit einem dünnen Stirnband vom Gesicht fernhielt, kannte sie besser als jeden anderen Menschen. Er trug ein dunkles Gewand, einen Brustpanzer und ein Schwert.
Atrigor!
Auf seinen Lippen lag ein glückliches Lächeln, auch wenn die Augen eine gewisse Traurigkeit ausstrahlten.
Wie gerne hätte sie ihn umarmt, ihn geküsst, ihn nie wieder losgelassen. Doch sie wusste, dass das nicht möglich war. Genauso wie auch er es zu wissen schien. Denn von dem schmerzerfüllten Lächeln abgesehen schenkte er ihr keine Geste ihrer Liebe. Sicherlich wollte er ihr die Aufgabe nicht noch erschweren.
»Ich bin die Hüterin der
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