0953 - Der Fluch von Eden
zusammen, ahnte bereits, dass ihr ein weiterer Schock bevorstand - vielleicht ein noch größerer als die Trennung von ihrer Familie.
Wenzel lenkte sie durch Sträßchen, die Nele noch nie zuvor betreten hatte. Aber ab und zu sah sie den Turm der Gereonskirche in der Ferne zwischen Häusern aufblitzen. Und dann - plötzlich - erkannte sie ihre Umgebung. »Du weißt, wohin wir gehen?«, fragte Wenzel, der den Leuten, durch die sie passierten oder die ihnen entgegenkamen, keine Beachtung schenkte. Offenbar fühlte er sich trotz Neles Begleitung sicher. Warum, leuchtete dem Mädchen nicht ganz ein.
»Meines Vaters Kontor liegt hier in der Nähe. Ich glaube…«, Sie wies nach links, »- in diese Gasse dort hinein. Am Ende befindet sich ein großes Lagerhaus. Die Rückseite zeigt zum Fluss. Es gibt eine eigene Anlegestelle für Kähne, die…«
»Genauso ist es. Und kennst du den Verwalter des Kontors?«
Nele schüttelte den Kopf.
»Du hast ihn nie gesehen?«
Auch das verneinte sie.
Ohne stehen zu bleiben, führte Wenzel seine Befragung fort. »Wie viele Leute arbeiteten für deinen Vater?«
»Das weiß ich nicht.«
»Besuchten sie euch nie zu Hause? Die höhergestellten Beschäftigten zumindest?«
Nele verneinte.
»Sagt dir der Name Barnabas etwas?«
Nele zögerte. »Möglich, dass Vater ihn ein paar Mal erwähnt hat. Kann sein, dass es in Verbindung mit dem Kontor war.«
»Barnabas ist der… nun ja, sagen wir ruhig ›Verwalter‹ dort. Er war es, der sich nach langem Hadern schließlich vertrauensvoll an das Umfeld des Erzbischofs wandte. Offenbar konnte er die Last der eigenen Schuld nicht länger tragen. Alles Weitere nahmen dann wir in die Hand.«
Wenzels Andeutungen wurden immer ominöser. »Ihr? Wer genau seid ihr überhaupt? Vasallen des Erzbischofs, ja, aber…«
»Er nennt uns seine Inquisitoren.«
»Inqui…?«
»Wir suchen und forschen - im Auftrag der Kirche.«
»Ich habe noch nie von einer solchen Einrichtung…«
»… gehört?« Wenzel lächelte milde. »Wir erfüllen unsere Missionen im Hintergrund. Offiziell gibt es uns gar nicht.«
»Und der Erzbischof hat euren Orden gegründet?«
»Die Erzbisch öfe . Unsere Bruderschaft gibt es schon seit Jahrhunderten.«
Nele verstand nicht einmal die Hälfte dessen, was Wenzel gerade ausführte. Dabei war sie eine gebildete Person. Ihr Vater hatte stets größten Wert auf die Mehrung des Wissens seiner Kinder gelegt. Im Laufe ihres Lebens hatte Nele insgesamt vier Privatlehrer kennengelernt und verbraucht - wie ihr Vater es nannte, wenn er auf ihren enormen Verschleiß zu sprechen kam.
»Soll ich Euch das wirklich glauben, Herr Wenzel? Aber kommen wir zu diesem Barnabas zurück. Er hat meinen toten Herrn Vater also verleumdet. Er ist schuld daran, dass…«
»Dein Vater hat Schuld, kein anderer!«, fiel ihr Wenzel ins Wort. »Und wovon genau ich rede, wirst du gleich sehen. Wir sind da.«
Er war vor dem geschlossenen zweiflügligen Tor stehen geblieben, durch das Nele schon einige Male im Beisein ihrer Mutter gegangen war - um ihren Vater zu besuchen oder ihn von der Arbeit abzuholen. Doch das letzte Mal, erinnerte sie sich, lag schon Jahre zurück.
Sie stöhnte auf.
»Was ist?«, fragte Wenzel.
»Nichts«, log sie.
Daraufhin klopfte der Inquisitor des Erzbischofs mit geballter Faust gegen das Tor. Der dumpfe Klang blieb nicht ohne Wirkung. Nele hörte Schritte, die sich drinnen näherten. Dann wurde ein Riegel zur Seite geschoben, und einer der Torflügel schwang nach innen auf.
Die Gestalt, die ihnen entgegenkam, war das Grässlichste, Hässlichste und zugleich Mitleiderregendste, was Nele je in ihrem Leben zu Gesicht bekommen hatte. Der bucklige, fast halslose Mann hatte nicht nur ein schiefes Gesicht, in dem kaum Kontur zu erkennen war, nein, er schien auch nur mit einem einzigen Auge statt zweien auf die Welt gekommen zu sein. Dieses prangte zu allem Überfluss noch mitten auf der runzligen Stirn und wurde halb von einem Lid zugedeckt, das so schwer schien, dass der Einäugige es nicht gänzlich zu heben vermochte. Der krumme Mund hatte etwas von einem Säugling, die aufgeworfenen Lippen sahen aus, als wollte er sie jeden Moment über eine Mutterbrust stülpen.
Der Zyklop glotzte Nele mit dem einzigen Auge, das er hatte, an, gab aber durch nichts zu verstehen, ob er wusste, wen er da vor sich hatte.
»Das ist Barnabas«, sagte Wenzel. Ohne die Missgeburt zu begrüßen, schob er sich an ihr vorbei ins Innere des Gebäudes.
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