0953 - Der Fluch von Eden
Bevor er darin verschwand, drehte er sich zu Nele um und winkte ihr mit der Aufforderung, ihm zu folgen.
Nele spürte ein seltsames Brennen hinter dem Brustbein, gehorchte aber.
Im Vorbeigehen streifte sie die Kleidung, die Barnabas in Fetzen vom Körper hing und erhaschte einen Blick auf Geschwüre, die den ganzen Körper des Verwachsenen zu bedecken schienen. Dazu fing sie den süßlichen Geruch von Schweiß, vermischt mit Blut und noch etwas anderem, auf.
Sie rang nach Atem.
Hinter dem Tor führte ein kurzer Gang zunächst in den Büroraum des Kontors. Dort standen die Möbel, die Albrecht Großkreutz aus aller Herren Länder hierher verfrachtet hatte, zusammen mit den Dingen, mit denen er lukrativen Handel trieb.
So hatte es Nele immer gekannt.
Doch während sie sich unbehaglich umblickte, schien Wenzel ihre Gedanken zu erraten, denn er sagte: »Wusstet ihr, dass dein Vater seit Monaten auf Pump lebte? Er hat hohe Schulden gemacht, um den Anschein eines wohlhabenden Mannes aufrecht zu erhalten.«
Nele wunderte sich, dass diese neuerliche Eröffnung ihr nicht den Boden unter den Füßen wegzog. »Nein«, sagte sie nur. »Das wussten wir nicht.« Ich jedenfalls nicht. Was Mutter jedoch angeht…
»Es scheint dich nicht einmal zu erschüttern.«
»Das täuscht.«
»Er hat euch alle hintergangen.«
Sie löste den Blick von der Einrichtung, die sie an bessere Zeiten erinnert hatte und sah ihn durchdringend an. »Warum tut Ihr das?«
»Was? Dir helfen?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Genau das tut Ihr doch gar nicht. Ihr helft nicht. Ich habe vielmehr den Eindruck, als würdet ihr…«
Sein hässliches Gelächter fegte alles hinweg, was er vorher so mühselig aufgebaut hatte. Er winkte Barnabas herrisch zu sich. »Schnapp sie dir!«
Bevor Nele überhaupt realisierte, wie ihr geschah, war der Einäugige bei ihr und schloss sie brutal zwischen seinen Armen ein, die sich wie Stahlklammern um sie legten.
Nele schrie auf. Ihre Empörung kämpfte gegen die Erkenntnis, die sich zäh wie frisches Baumharz in ihr Bewusstsein senkte.
Aber wahrhaben wollte sie es immer noch nicht.
»Was - soll - das?«, keuchte sie. Barnabas quetschte ihr die Luft aus den Lungen. »Er soll - mich loslassen!«
Ihr Blick suchte Wenzel, der zu einer Tür getreten war, die jener gegenüberlag, durch die sie in das Büro gekommen waren. Ohne jede Rücksicht trat er dagegen. Sie flog quietschend auf.
»Hier hinein mit ihr! Zu den anderen!«
Obwohl sie strampelte, um sich trat und schlug, soweit es ihr in der brutalen Umschlingung des Zyklopen möglich war, schleppte der Verwachsene sie mit einer Leichtigkeit, als wäre sie nur ein widerspenstiges Püppchen, in den angrenzenden Lagerraum, wo bereits andere Gestalten auf sie warteten.
Albtraumhafte Geschöpfe.
Und mittendrin…
Barnabas schleuderte Nele von sich. Sie torkelte in den Raum. Hatte nur Augen für -
»Julius! Noah!«
Ihre Stimme überschlug sich. Sie strauchelte, landete auf den Knien, spürte stechenden Schmerz. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Verschwommen sah sie das groteske Szenario, in dem ihre beiden Brüder wie das einzig Menschliche wirkten. Obwohl sich etliche Gestalten, Männer und Frauen, in ihrer Nähe bewegten.
»Allmächtiger im Himmel«, rann es über ihre Lippen.
Endlich begriff sie, was sie an den Zerlumpten im Zwielicht störte, die um den Käfig strichen, in dem sich Julius und Noah furchtsam aneinander kauerten.
Sie sahen alle so bleich aus, die Haut fahl, wächsern, manchmal auch schattiert, als hätte Fäulnis sie befallen.
Krätze , dachte Nele.
Keine der Gestalten wirkte gesund. Nele kam sich vor wie unter Todkranken und Sterbenden.
Wie sehr sie sich irrte, erfuhr sie, als Wenzel neben sie trat, sich zu ihr hinunter bückte und seine Finger in ihr Haar grub, daran riss.
Sie bog den Kopf weit in den Nacken, starrte zu ihm hoch, und plötzlich waren die Tränen verschwunden, klärte sich ihr Blick, sodass sie jede Nuance des sardonischen Lächelns registrierte, das seine Worte untermalte.
»Du wolltest sie doch sehen«, sagte er.
Nele glaubte zuerst, er meine ihre Brüder. Doch seine nächsten Worte führten sie auf die richtige Fährte.
»Diese Leute hier fanden wir, als Barnabas sich uns anvertraute. Er hatte selbst unter deinem Vater zu leiden. Aber nicht so sehr wie die Elenden dort, die der Ketzer noch um ihren Tod betrog.«
***
Wenzel zerrte Nele auf die Füße. Sie kam wankend neben ihm zum Stehen. Irgendwo
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