0954 - Die Stunde des Pfählers
Varac war tatsächlich kein Unbekannter.
Wer Zeitungen und Magazine las, wußte über ihn Bescheid, denn er gehörte zu den Leuten, die einiges auf dem Kerbholz hatten. Er und sein Bande waren als Plünderer bekannt. Sie zogen nicht nur durch das eigene Land, sondern überschritten auch Grenzen. Dabei hausten sie in den Wäldern, wo sie kaum zu fassen waren. Früher war Varac ein hohes Tier bei der Arme gewesen, doch nach der Wende des Landes hatte er abtauchen müssen. Auf sein Konto waren einfach zu viele Morde gegangen.
Man sagte ihm gute Verbindungen ins Ausland nach, auch in die Staaten der ehemaligen UdSSR.
»Was ist geschehen, alter Mann? Rede, und bleib bei der Wahrheit. Tust du es nicht, erwischen wir dich bei einer Lüge, werden wir dich foltern und schreien hören.«
»Ja, ich weiß.«
»Gut, ich höre.«
Frantisek Marek nahm kein Blatt vor den Mund. Nur seine eigene Position behielt er mehr für sich.
Der andere brauchte nicht zu wissen, daß er Blutsauger jagte. Er gab sich weiterhin als blinder Passagier aus, der einen Unterschlupf gesucht hatte, um der Kälte wenigstens etwas zu entgehen. Er hatte nur nicht gewußt, daß der Zug startete, und so war er eben mitgefahren.
»Und wer hat Ottincu getötet?«
»Das ist die Bestie gewesen.«
»Bestie?« schnappte Varac. »Von welcher Bestie sprichst du überhaupt? Verdammt!«
»Es war beinahe ein Wolf.«
Varac lachte. »Beinahe, wie? Warum nicht ganz?«
»Weil er auch ein Vampir ist. Er hat nicht nur getötet, sondern auch das Blut getrunken.«
Der Anführer schloß für einen Moment die Augen und drückte sich zurück. Er flüsterte etwas vor sich hin, dann aber riß er die Augen wieder auf und fing an zu toben. Wütend schlug er um sich, trat mit den Füßen auf und fuhr Marek an, daß er sich nicht belügen lassen wollte. »Ich glaube es dir nicht, Alter. Du spinnst dir was zusammen. Es war kein Wolf, es war auch kein Vampir. Wer ist es wirklich gewesen, verflucht! Wer? Rede endlich!«
»Ich habe die Wahrheit gesagt!«
Varac heulte auf. Er konnte sich nicht mehr beruhigen. Plötzlich riß er eine seiner beiden Pistolen aus dem Gürtel, und bevor sich Marek versah, spürte er den Druck der Mündung an seiner Gurgel.
Dicht hinter der Waffe sah er das Gesicht mit den hellen Augen, das sich gerötet hatte. »Ich will jetzt die Wahrheit von dir hören, Marek. Die ganze, verdammte Wahrheit! Verstanden?«
»Ja.«
»Dann los!«
»Ich habe dir die Wahrheit gesagt!«
Es folgte der entscheidende Augenblick. Frantisek konnte nur hoffen, daß der andere nicht durchdrehte und abdrückte. Sein Gesicht zuckte, in ihm zeigten sich die Gefühle. Varac wußte selbst nicht, ob er abdrücken sollte oder nicht, und auch Marek hielt sich zurück. Plötzlich aber grinste der Bandenchef, trat zurück, und auch der Mündungsdruck verschwand von Mareks Gurgel.
»Durchsucht ihn!«
Die beiden Aufpasser packten Marek. Wieder wurde er gegen die Säcke geschleudert. Diesmal waren es flinke Hände, die ihn nach Waffen abtasteten, aber keine fanden, bis auf den alten Eichenpflock, den einer von ihnen hochhielt, um ihn Varac zu zeigen.
»Vergiß es!«
Marek bekam seinen Pfahl zurück. Er durfte auch aufstehen. Dabei sah er, wie Varac auf ihn zeigte.
»Hättest du eine Waffe bei dir getragen, wir hätten dich exekutiert, alter Mann!«
Frantisek hob die Schultern. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich nur ein blinder Passagier bin.«
Der Bandenchef verengte die Augen. »Komisch, ich kann dir nur nicht so recht glauben.«
»Warum nicht?«
»Gefühl.«
»Was habe ich denn falsch gemacht?«
»Nichts!« schrie Varac unbeherrscht los. »Nichts! Du hast nichts falsch gemacht, Alter. Trotzdem bin ich verunsichert. Ich weiß auch nicht, weshalb, aber ich bin es eben. Aber lassen wir das, wir haben ja noch Zeit.« Er wies auf den Toten. »Was ist mit ihm? Hast du mit ihm gesprochen?«
»Ein wenig.«
»Und?«
»Er wollte nichts glauben. Er wollte mir nichts glauben. Dann ist er gekommen.«
»Der Wolf?«
»Durch das Dach.«
»Und du hast zugeschaut?«
Marek nickte. »Ich wollte es nicht, aber es ging nicht anders.«
Varac zeigte ein breites Grinsen. »So weit, so schlecht, Alter. Ich wundere mich nur, daß die Bestie nicht auch dich geholt hat, sondern nur den armen Ottincu. Da stimmt doch was nicht. Wieso lebst du? Warum aber ist Ottincu tot?«
»Er brauchte nichts mehr.«
»Wie? Rede deutlicher.«
»Die Bestie war satt.«
»Ach.«
»Vom Blut, durch das Blut.
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