0955 - Blutiger Dschungel
bitterer Härte.
Alejandro wandte sich an die beiden blassen Männer, die neben der Tür standen.
»Bringt die Kleine und ihren Mitausreißer dahin, wo ihnen jeder Spaß an Flucht vergehen wird. Los, in den Blutigen Dschungel mit ihnen.«
Das Mädchen ließ einen erstickten Schrei hören, doch Alejandro ignorierte das ganz einfach. Als er endlich alleine im Raum war, zog er die Lade auf, die unter dem alten Küchentisch angebracht war. Darin lagen vier flache Glasflaschen. Er griff nach der ersten, dann der zweiten… in der dritten endlich befand sich noch ein guter Schluck von dem hochprozentigen Fusel, den er Tag für Tag in sich hinein schüttete. Wirklich nur ein kleiner Schluck. Achtlos ließ er dann die endgültig geleerte Flasche auf dem Tisch stehen und schnappte sich die vierte. Die war randvoll. Gierig goss Alejandro den Alkohol in sich hinein. Erst als die Flasche über die Hälfte geleert war, setzte er ab.
Alejandro schloss die Augen und wartete darauf, dass die betäubende Wirkung einsetzte. Absinth sagte man viele unschöne Eigenschaften nach, was sogar das Verbot der Spirituose in vielen Ländern der Erde nach sich gezogen hatte, doch das alles interessierte den alten Mann nicht. Bei ihm wirkte das Giftzeug besser als die Schmerzmittel, die ihre Wirksamkeit bei Alejandro längst verloren hatten.
Der Alte blickte auf seine Füße.
Füße? So konnte man das, was die verfluchten Ärzte ihm gelassen hatten, sicher nicht nennen. Vor zehn Jahren hatten sie ihm den rechten Fuß abgeschnitten und nur einen Stumpf übrig gelassen; zwei Jahre später geschah das mit dem linken Fuß. Seine Krankenakten füllten sicher mehrere Ordner - wenn man sie nicht längst fortgeworfen hatte. Die Gründe für sein Elend waren mannigfaltig. Diabetes, zu viel Alkohol, zu viele Zigarren - viel zu viele Drogen. Alles zusammen hatte ihn seine Füße gekostet. Und so humpelte er nun auf den Resten dessen, was ihn durch sein Leben getragen hatte.
Alejandro hatte als junger Mann auf den Zuckerplantagen gearbeitet, hatte Kaffee geerntet, und irgendwann war ihm klar geworden, dass er sein Geld viel einfacher verdienen konnte, wenn er sich den Drogenkartellen anschloss. Mit der Zeit wurde er zu einem eiskalten Killer, denn jeder Drogenboss brauchte jemanden, der die ganz schmutzige Arbeit für ihn erledigte. Alejandro kannte keine Skrupel. Nachdem er seine Füße verloren hatte, war es damit jedoch vorbei. Also schloss er sich einem ganz neuen Kartell an, das sich selbst Rojo nannte.
Heute herrschte er über das Lager am Rande des Dschungels. Sein Patron war sehr zufrieden mit ihm, denn Alejandro regierte hier mit eiserner Faust. Das war es, was die Kinder brauchten, damit sie nicht auf dumme Ideen kamen. Wenn sie dann das Lager verließen, waren sie für immer und alle Zeiten auf Rojo eingeschworen. Die Angst, die ihnen eingepflanzt worden war, machte sie zu perfekten Straßenhändlern, zu den besten Drogenkurieren in ganz Kolumbien.
Natürlich kannte Alejandro die Gerüchte, die man sich über El Rojo erzählte. Er jedoch wusste mehr, viel mehr. Gerüchte. Manchmal entsprachen sie ja den Tatsachen oder wurden von ihnen noch übertroffen.
Alejandro fühlte, wie der Absinth eine tiefe Müdigkeit in ihm aufkommen ließ. Es war früh am Nachmittag, doch das änderte nichts daran, dass ihm jetzt die Augen schwer wurden. Er ließ ganz einfach seinen Kopf auf die Tischplatte sinken und schlief ein. Ob er im Sitzen schlief, in einem Bett oder auf steinhartem Boden, das spielte für Alejandro keine Rolle, denn die Schmerzen in seinen Stümpfen verfolgten ihn auch bis in den Schlaf hinein. Mehr als eine, allerhöchstens zwei Stunden schlief er nie am Stück, denn die Pein ließ das nicht zu. Erst nach einem Cocktail aus Morphium und Absinth konnte er dann die nächste Zeit ertragen.
El Rojo hatte ihm einen alternativen Vorschlag gemacht, doch den hatte Alejandro abgelehnt. Vielleicht würde er sich beizeiten eines Besseren belehren lassen, doch dieser Weg war ihm einfach zu bizarr.
Als er wieder erwachte, fiel gerade die Dämmerung auf den angrenzenden Dschungel herab. Alejandro war überrascht - so viele Stunden hatte er schon lange nicht mehr an einem Stück durchgeschlafen. Die Phantomschmerzen jedenfalls waren sofort wieder präsent. Ohne zu zögern, griff der alte Mann in die Innentasche seiner abgewetzten Jacke, in der er immer die Morphium-Tabletten bei sich trug. Mit einem tiefen Schluck aus der Absinthflasche spülte er
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