0955 - Blutiger Dschungel
eine Handvoll davon durch seine Kehle herunter. Die Wirkung setzte schon nach einigen Minuten ein, auch wenn sie nicht mehr so drastisch war wie früher; sein Körper hatte sich an die knallharten Schmerzmittel gewöhnt und ignorierte einen großen Teil ihrer Wirkung ganz einfach.
Dennoch reichte es aus um wieder klar denken zu können, und mithilfe der Krücke das Haus zu verlassen. Er wollte unter keinen Umständen verpassen, was nun bald erfolgen würde. Seine Anwesenheit war notwendig, denn er war der erste Mann hier, wenn der Patron nicht anwesend war.
Draußen wartete man bereits auf ihn.
Die drei Häuser des Anwesens waren nur schwach beleuchtet. Da die Dunkelheit so nahe dem Dschungel oft binnen weniger Minuten das Tageslicht killte, waren auf dem großen Platz überall brennende Fackeln aufgestellt. Mit einem einzigen Rundblick verschaffte Alejandro sich ein Bild der Lage. Die Kinder waren hier strikt nach Geschlechtern aufgeteilt - ein Haus für die Mädchen, eines für die Jungen.
Im großen Mittelhaus lebten die Wächter, die zugleich auch die Lehrer der Kinder waren - die Frauen und Männer waren allesamt erfahren in dem Job, den sie die Kinder lehrten. Alejandro traute keinem dieser Leute über den Weg, denn auch wenn sie für El Rojo arbeiteten, so blieben sie doch Junkies, die immer und überall den eigenen Vorteil suchten und sich nahmen, was sie bekommen konnten.
Sie alle - Kinder und Wächter - standen jetzt auf dem Platz, der sich durch die U-förmige Anordnung der Gebäude ergab. Eine unheimliche Stille beherrschte den Moment, eine Stille, die ganz einfach nicht hätte existieren dürfen, denn wenn an die 200 Kinder beieinanderstanden, dann musste es einfach laut sein: Lachen, Kreischen, Schreien - alles andere war nicht normal.
Hier jedoch gab es nur Stille, die so schwer wie ein Umhang aus dickem Leder alles einhüllte und selbst das Atmen zu einer Last werden ließ, die kaum zu ertragen war.
Alejandro lächelte zufrieden - Angst war ein perfekter Lehrmeister, dessen Lektionen man nie wieder vergaß. Die Kinder hatten das verstanden, oh ja, das hatten sie. Und dennoch geschah es immer wieder, dass der Drang nach Freiheit die Oberhand bekam. Daher war es heute wieder einmal an der Zeit, ein drastisches Exempel zu statuieren.
Abseits von den anderen Kindern standen fünf Jungen und Mädchen. Drei von ihnen warteten nun schon seit einigen Tagen auf ihre Bestrafung, die anderen beiden - das Mädchen, das Alejandro vor Stunden noch verhört hatte und ihr jüngerer Bruder - waren erst heute wieder eingefangen worden.
Langsam humpelte Alejandro zum Mittelpunkt des Platzes. Er konnte die Angst der Kinder riechen, die vor ihm zurückwichen. Sie hassten ihn - und er hasste sie. Es war nie anders gewesen. Als junger Mann hatte er mehr als eine feurige Beziehung zu Frauen sofort beendet, wenn das Thema auf Heirat und Kinder gekommen war. Er kannte den Grund nicht, aber es hatte ihn bei dem Gedanken gegraust, Vater zu werden. Und ausgerechnet er wachte nun über eine Kinderschar, deren Anzahl nur selten niedriger als 100 Köpfe war. Doch El Rojo hatte ihn mit Kalkül hier eingesetzt - Alejandro kannte kein Mitleid, wenn ihn Kinderaugen groß ansahen.
Vor den fünf Delinquenten blieb er stehen. Seine Stimme war kraftvoll genug, um den gesamten Platz zu erfüllen.
»Jeder hier weiß, was geschieht, wenn er versucht, vor El Rojo zu fliehen. Unser Patron braucht euch, jeden einzelnen von euch. Niemals wird er es zulassen, dass ihr euch aus dem Staub macht. Das war jedem von euch klar.« Langsam umrundete Alejandro die fünf Kinder, die dicht beieinanderstanden, als könne sie die Nähe der anderen retten. »Ihr habt es dennoch versucht und seid gescheitert. Nun müsst ihr die Konsequenz tragen - die Nacht im Blutigen Dschungel !«
Alejandro ließ diese Worte einige Augenblicke lang wirken. Dann drehte er sich zu den anderen Kindern um. »Für die von euch, die das noch nie miterlebt haben, sei Folgendes gesagt: Das Grauen, das in diesem Dschungel haust, hat schon manchem den Verstand geraubt. Niemand kehrt aus dem Blutigen Dschungel als der zurück, der ihn betreten hat. Niemand! Und einer bleibt für alle Zeit dort zurück - eines dieser fünf Früchtchen wird die kommende Nacht nicht überleben. So lautet das Gesetz von Rojo .«
Das jüngste der fünf Kinder verlor in diesem Moment die Nerven. Weinend brach der 12 Jahre alte Junge in die Knie. Alejandro ignorierte ihn vollkommen. Mit der Krücke
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