0957 - Der schwarze See
erwartet.«
»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Nicole. »Paula, geht es dir gut?«
»Alles okay, Nicole.« Die junge Frau war sichtlich erleichtert, die Französin zu sehen. »Sie haben mir nichts getan.«
»Aber natürlich nicht, ich bitte Sie«, sagte ihr Gastgeber mit gespielter Empörung. »Wir Kolumbianer mögen ja ein bisschen ungehobelt sein, aber wir sind auch ein Volk von Kavalieren.« Er stand auf und verbeugte sich galant. »Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Antonio Álvarez. Mir gehört dieses kleine Anwesen.«
»Kleines Anwesen?«
Álvarez versuchte ein bescheidenes Lächeln. Es misslang ihm gründlich. »Nun, das und ein bisschen mehr. Ich bin einer der größten Exporteure von Zucker.«
Einer von Álvarez' Männern war aufgesprungen, um Nicoles Stuhl vom Tisch zu ziehen. Sie nahm Platz und ließ zu, dass der vierschrötige Schnauzbartträger den Stuhl formvollendet zurückschob.
Ungefragt goss Álvarez der Französin etwas Champagner ein, während eine dickliche Hausangestellte, die aus dem Nichts aufgetaucht war, ihren Teller mit köstlich aussehenden Speisen füllte.
Álvarez hob sein Glas, um Nicole und Paula zuzuprosten. »Auf meinen reizenden Besuch.«
»Empfangen Sie jeden Besuch mit Waffen?«
Álvarez zuckte mit den Schultern. »Das ist eine unruhige Gegend. Gerade jetzt dürfte wieder etwas im Busch sein. Ich vermute, Ihnen ist die ungewöhnliche Zusammenballung von Soldaten aufgefallen, Señorita Duval?«
Nicole entging nicht der lauernde Blick, mit dem sie Álvarez für einen kurzen Moment bedachte, bevor er wieder die Maske des perfekten, leicht onkelhaften Gastgebers aufsetzte. Daher weht also der Wind , dachte sie. Etwas Großes tut sich im Reich von Señor Álvarez, aber er weiß nicht, was es ist, und das macht ihn nervös.
»Vielleicht machen sie Jagd auf Drogenhändler?«, sagte Nicole und nippte vorsichtig an ihrem Champagner.
»Sie sollten es wissen. Sie kamen genau aus dieser Richtung.«
»Tatsächlich?«
Nicole sah die Bewegung kaum kommen. Mit einer Geschwindigkeit, die man einem Mann seines Alters kaum zugetraut hätte, wischte der Zuckerbaron Nicole das Glas aus der Hand. Mit einem Klirren zersprang es auf der Veranda. Paula keuchte entsetzt auf.
»Sie sollten mich nicht für dumm verkaufen, Señorita Duval, nicht in meinem eigenen Haus, das könnte Ihnen sehr schlecht bekommen. Also noch einmal von vorne: Was geht hier vor?«
»Sie sind doch ein mächtiger Mann, Don Antonio. Ich kann mir vorstellen, dass ein Unternehmer Ihres Kalibers viele gute Freunde in Regierungskreisen hat. Warum fragen Sie die nicht einfach?«
Álvarez lachte leise. Es klang wie das tödliche Rasseln einer Klapperschlange. »Sie können mir glauben, dass ich das längst getan habe. Dort hat man mich mit demselben Quatsch abgespeist, mit dem sie seit Tagen die Medien für dumm verkaufen. Angeblich hat es in einem bisher streng geheim gehaltenen Forschungsreaktor einen Unfall gegeben. Man hat mir sogar Schadensersatz versprochen, falls ich meinen Zucker aufgrund einer eventuellen Kontamination nicht mehr verkaufen könnte.« Der alte Mann schnaubte verächtlich. »Das Problem ist nur, dass meine Männer überhaupt keine Kontamination feststellen konnten.«
Nicole hob fragend die rechte Augenbraue.
»Nur weil wir hier am Ende dessen leben, was Sie für die Zivilisation zu halten geneigt sind, heißt das noch lange nicht, dass wir hier auf den Kopf gefallen sind. Auch hier kommt man an Geigerzähler. Und jetzt raten Sie mal, was die anzeigen.«
»Nichts?«
»Sie sagen es, rein gar nichts. Diese Gegend ist so verstrahlt wie der Allerwerteste eines frisch gebadeten Babys.«
Nicole fand den Vergleich zwar etwas eigentümlich, aber der Zuckerbaron war zweifellos auf der richtigen Spur. Álvarez hatte recht, sie durfte ihn nicht unterschätzen.
»Dafür sind bei einer Strafaktion vor drei Wochen ein halbes Dutzend meiner besten Männer verschwunden.«
»Was für eine Strafaktion?«, fragte Nicole beunruhigt.
»Oh, wissen Sie, es hat durchaus Vorteile, am Ende der Welt zu leben. Uns fehlen vielleicht einige Annehmlichkeiten der Stadtmenschen, dafür redet hier niemand groß in unser Leben hinein. Wir Amazonier sind stolz auf unsere Traditionen. Und wir haben es nicht gerne, wenn uns Gewerkschafter vorschreiben wollen, wie wir unsere Arbeiter zu entlohnen haben. Wenn es nach denen ginge, müssten wir jeden Tagelöhner mit dem Dienstwagen zur Arbeit kutschieren.«
»Stattdessen
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