0957 - Der schwarze See
ihre Wunde fachgerecht versorgt. Vorsichtig überprüfte sie den frischen Verband, drückte leicht, doch der erwartete Schmerz blieb aus.
Entweder arbeiteten ihre Selbstheilungskräfte weiterhin auf Hochbetrieb, oder jemand hatte sie mit Schmerzmitteln vollgepumpt. Dagegen sprach, dass sie sich bemerkenswert frisch fühlte. Vorsichtig schob sie ihre Beine über die Bettkante. Als ihre nackten Füße den Parkettboden berührten, zögerte sie einen Moment, dann drückte sie ihre Arme durch und stand.
Für einen Moment fühlte sie einen leichten Schwindel, doch ihre Beine gaben nicht nach. Jemand hatte frische Kleidung in ihrer Größe auf einen Stuhl gelegt. Wo immer ich hier bin, der Zimmerservice ist schon mal spitze. Vorsichtig ließ sie sich auf einem kunstvoll gearbeiteten Sofa nieder und zog sich an, bevor sie sich weiter umsah.
Vorhänge aus rotem Brokat verdeckten das Fenster. Vorsichtig schob Nicole den schweren Stoff beiseite und linste hinaus. Draußen herrschte tiefe Nacht, die nur von wenigen elektrischen Lampen und ein paar Fackeln erhellt wurde. Sie befand sich im Erdgeschoss eines villenähnlichen Gebäudes, das, soweit sie das von ihrer Position aus erkennen konnte, offenbar Teil einer beeindruckenden Anlage war. Sie sah einen Seitenflügel, mehrere Nebengebäude und etwas weiter im Hintergrund eine mächtige kreisrunde Holzkonstruktion, die sie vage an etwas erinnerte, ohne dass sie genau sagen konnte, an was.
Was sie viel mehr interessierte, war der große Parkplatz zu ihrer Linken. Neben verschiedenen Geländefahrzeugen entdeckte sie mehrere ausländische Luxuslimousinen, die in dieser rauen Umgebung nur jemand fahren konnte, der es sich leisten konnte, auf praktische Erwägungen völlig zu verzichten.
Was sie wieder zu ihrer Ausgangsfrage brachte: Wo um alles in der Welt war sie hier gelandet? In der Villa eines reichen Kaffee- oder Zuckerbarons? Oder bei einem der Bosse der heimischen Drogenmafia? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
Entschlossen wandte sich Nicole zur Tür. Sie war nicht abgeschlossen und es wartete draußen kein bis an die Zähne bewaffneter Wächter auf sie. Nur ein leerer, hell erleuchteter Flur mit dicken, reich verzierten Teppichen.
Von irgendwo erklang leise klassische Musik. Barock, um genau zu sein. Die »Brandenburgischen Konzerte« von Johann Sebastian Bach. Außerdem hörte sie Stimmen, doch sie waren zu leise, als dass sie hätte erkennen können, wie viele es waren oder worüber sie sprachen.
Doch immerhin wusste sie jetzt, in welche Richtung sie sich wenden musste. Der Weg führte sie in eine große Vorhalle, die mit antiken europäischen Möbeln und wuchtigen Gemälden vollgestopft war.
Sie folgte den Stimmen weiter bis zu einer weit geöffneten Flügeltür, die auf eine hell erleuchtete Veranda führte. An einem großen Esstisch saßen zwei Personen, die gegensätzlicher kaum hätten sein können. Der ältere, hagere Mann am hinteren Kopfende sah durch seinen weißen Spitzbart ein wenig aus wie eine spanische Version von Buffalo Bill. Er mochte Anfang 70 sein, war aber offensichtlich noch bestens in Form. Er trug einen teuer aussehenden weißen Anzug, ein fliederfarbenes Hemd und ein Einstecktuch aus Seide.
Vor ihm befanden sich die Überreste einer opulenten Mahlzeit. An seiner linken Seite saß Paula. Die Journalistin sah bleich und verängstigt aus. Wie paralysiert starrte sie auf ein köstlich aussehendes Hühnchen, das sie offenbar nicht einmal angerührt hatte. Der Platz ihr gegenüber war leer, doch es war für eine weitere Person gedeckt worden.
Im Hintergrund hatte sich ein halbes Dutzend muskelbepackter Männer in Jeans und groben Hemden platziert. Mindestens die Hälfte von ihnen hatte zu den bewaffneten Reitern gehört. Die Männer saßen auf einfachen Stühlen oder lehnten an der Mauer, die zum Garten führte, und grinsten die schöne Französin breit an.
»Ah, Señorita Duval, es freut mich, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben.«
Der ältere Mann lächelte die Dämonenjägerin freundlich an und wies auf den Platz zu seiner Rechten. »Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihre Wunde versorgen zu lassen. Ehrlich gesagt wundert es mich, dass Sie so schnell schon wieder auf den Beinen sind. Aber umso besser. Vorsichtshalber habe ich gleich für Sie mitdecken lassen. Angeschossen zu werden macht hungrig, wie wir hier zu sagen pflegen. Nehmen Sie doch Platz, ich glaube, Señorita Vásquez hat Ihre Ankunft schon ungeduldig
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