0958 - Der Keller
Taschenlampe packte sie nicht wieder ein. Sie hatte sie in ihren Gürtel geklemmt. Das Taschenmesser steckte in ihrer Hosentasche. Es war eine gute Waffe und multifunktionell.
Sie schloß den Rucksack mit Mühe. Er war nicht so gepackt, wie er sein sollte.
Noch immer kniete sie. Mit beiden Händen hielt sie den schweren Rucksack fest. Sie wollte ihn in der knieenden Haltung auf den Rücken wuchten und hatte ihn schon packt und leicht angehoben, als sie plötzlich zu einer Figur wurde.
Gisela Behle erstarrte mitten in der Bewegung. Ihr Mund war weit aufgerissen, die Augen ebenfalls. In ihnen stand ein Blick, mit dem sie nicht fertig wurde.
Etwas hielt sie fest.
Und nicht nur das.
Es war eine Klaue, es waren Messer, wie auch immer, die sich durch den Stoff der Hose hindurch in ihre linke Wade gebohrt hatten…
***
Der Schmerz war da. Er war betäubend. Aber Gisela bekam ihn nicht richtig mit. Sie merkte, daß etwas Warmes aus der Wunde an der Wade hervorsickerte.
Blut - ihr Blut!
Noch war der Schmerz nicht da, noch stand sie unter einem Schock. Sie wußte auch nicht, was hinter ihr genau passiert war, aber sie zerrte ihren Rucksack in die Höhe, und sie drehte sich selbst dabei um. Der Rucksack machte die Bewegung mit.
Er prallte gegen ein Untier.
Es war nicht genau zu erkennen. In der Dunkelheit verschwammen die Umrisse. Etwas Helles oder Gelbes war ihr schon für einen Moment aufgefallen, dann prallte ihr Rucksack gegen das Geschöpf und schleuderte es weg.
Der Schmerz war schlimm. Auf einmal durchfloß er sie wie heiße Feuerzungen.
Sie schrie und jammerte. Sie kam beim ersten Versuch nicht hoch, weil die linke Wade zu sehr brannte. Gisela Behle schrie, aber es war niemand da, der sie hörte. So blieb sie allein in ihrer Angst vor dem Unheimlichen.
Sie konnte nicht stehen. Auf allen vieren kroch sie dem Ausgang entgegen.
Sie heulte Rotz und Wasser. Sie jammerte und wimmerte vor sich hin. Den Rucksack schob sie vor sich her.
Weiter, nur weiter.
Alles war anders. Die ganze Welt hatte sich verändert. Sie war zu einem Kaleidoskop der Schmerzen geworden. Ihr linkes Bein brannte. Blut floß aus einer tiefen Wunde hervor und hinterließ auf dem Boden einen dunklen, schmierigen Streifen.
Gisela Behle hatte innerlich abgeschaltet. Sie wußte nicht, wo sie sich befand. Es gab keine Richtung mehr für sie. Wie ein Wurm kroch sie durch das Haus. Irgendwo war der Ausgang. An einer Stelle, von der die Kälte kam und ihr ins Gesicht floß.
Sie kroch weiter, schob den Rucksack weiterhin vor sich her. Ihr linkes Bein brannte, als wäre es in Säure getaucht worden. Vielleicht wurde es ihr abgerissen, wer konnte das schon sagen? Sie verlor es auf dem Weg in die Freiheit.
Gab es die überhaupt noch?
Gisela kroch weiter. Sie entkam dem Schlund, denn irgendwann erwischte sie der echte Wind. Er biß in ihr Gesicht wie ein Peitsche.
Gisela Behle weinte. Sie merkte es nicht. Sie nahm nicht mehr wahr, was sie noch tat. Alles geschah automatisch. Sie ließ das Haus hinter sich, der Schlund hatte sich geschlossen, und irgendwann hörte sie plötzlich Stimmen, sah Lichter, dann brach sie zusammen…
***
»Bist du sauer, daß du hier bist?« fragte mich Harry Stahl und grinste mir ins Gesicht.
»Wie kommst du darauf?«
»Dein Gesicht, John.«
»Vergiß es. Ich bin es nur langsam leid mit dieser verdammten Kälte. Seit Monaten dauert sie nun schon. Hier bei euch ist sie ja noch schlimmer. Nichts taut.«
»Stimmt genau«, bestätigte Harry Stahl. »Und wenn etwas taut, dann lecken die Rohre.«
Ich goß mir Kaffee nach. Das Frühstück in diesem Magdeburger Hotel war nicht gerade das Gelbe vom Ei, aber ich hatte Hunger und aß auch noch ein zweites Brötchen.
Harry Stahl schaute mir dabei zu. Er hatte mich kommen lassen, weil es um einen Fall ging, mit dem er nicht zurechtkam. Es ging um Menschen, sie waren spurlos verschwunden. Mindestens zehn an der Zahl. Zwei waren Landsleute von mir.
Ich trank den Kaffee, der Klassen unter dem lag, was Linda Perkins kochte, aß noch etwas von der Wurst auf einem Brötchen und spülte mit Saft nach, um den Kaffeegeschmack wegzubekommen. Nein, das war nicht das Wahre, aber was sollte man machen?
»Und?« fragte Harry.
»Wie meinst du das?«
»Denkst du schon darüber nach, wie wir den Fall lösen können oder lösen werden?«
»Nein«, erwiderte ich ehrlich. »Darüber kann ich gar nicht nachdenken. Ich weiß einfach zuwenig.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Dann hättest
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