096 - Die Gräfin von Ascot
engagiert.«
»Was, er ist mit ihr engagiert? Meinen Sie Mr. John Morlay?« Herman nickte heftig. »Ja, ein sehr netter Herr.«
»Aber wie in aller Welt ist das möglich.«, begann Julian, dann schwieg er.
Sollte der Junge meinen, daß Marie mit Morlay verlobt war? John hatte doch den Eindruck gemacht, als ob er sich für das junge Mädchen überhaupt nicht interessierte! Er hatte von Marie wie von einem Kind gesprochen.
»Wollen Sie damit sagen, daß Mr. Morlay mit der Gräfin verlobt ist und sie heiraten will?«
Herman lachte.
»Nein, er ist doch engagiert, damit er auf sie aufpassen soll.« Nun mußte Julian laut auflachen.
Wenn Herman auch nicht über Mrs. Carawood sprechen wollte, so erzählte er doch um so mehr von Contessa Fioli. In diesem Punkt konnte man ihn ausholen.
»Ob ich die Contessa Fioli kenne? Selbstverständlich kenne ich sie! Mrs. Carawood hat sie doch hier in diesem Haus erzogen, als ich noch ein Kind war. Damals war ich hier Laufbursche und mußte die kleinen Aufträge erledigen. Mrs. Carawood hatte in jener Zeit noch nicht all die verschiedenen Läden.«
Julian hätte gern gewußt, welche Pläne für Maries Leben hier in der Stadt bestanden, und fragte danach.
»Contessa Fioli wird eine eigene Wohnung haben, ebenso ein eigenes Mädchen und eigene Dienerschaft. Aber sie wird wohl auch häufig hierherkommen, wenn sie in der Stadt ist.« »Ist sie eigentlich sehr reich?« fragte Julian gleichgültig. Herman runzelte die Stirn.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich würde es nicht verstehen, wenn eine Gräfin nicht reich wäre!«
In diesem Augenblick trat Mrs. Carawood in den Laden. Sie sah hübsch und jugendlich aus mit einem neuen Hut und einem dunkelgrünen Mantel, den sie aber sofort ablegte. Hier in dieser Umgebung erschien sie Julian natürlicher als auf dem Landsitz in Ascot. Sie war eine Frau aus dem Volk; um das festzustellen, brauchte er keine großen Nachforschungen vorzunehmen. Das konnte man deutlich erkennen und auch an ihrem Akzent hören. Sie sprach eine ziemlich unverfälschte Londoner Mundart.
»Guten Morgen, Mr. Lester«, sagte sie und sah ihn fragend an. »Sind Sie gekommen, um mit Marie wegen des Rings zu sprechen? Der wurde wieder zurückgeschickt.«
»Das weiß ich schon«, erwiderte Julian. »Ich wollte mit Marie nur so ein wenig plaudern.« Sie sah ihn argwöhnisch von der Seite an. »Auch mit Ihnen wollte ich mich gern einmal unterhalten - über Marie. Ich habe mir die Sache heute morgen überlegt und sagte mir, daß es vielleicht am besten sei, Ihnen mitzuteilen, was ich für Contessa Fioli empfinde. Was wollen Sie nun mit der jungen Dame tun, nachdem sie die Schule verlassen hat?«
Sie sah ihn immer noch halb abweisend, halb zweifelnd an.
»Was ich mit ihr tun werde? Ich kann doch Mylady höchstens einen Rat geben! Sie ist nun erwachsen und kann machen, was sie will. Das sollte Ihnen doch klar sein. Es ist jetzt anders, nachdem sie eine junge Dame ist. Und junge Damen nehmen nicht gern den Rat ihrer alten Erzieherinnen an.«
»Aber wenn sie nun auf Ihren Rat hörte - was würden Sie ihr dann sagen?«
»Ich würde ihr den Rat geben, jemanden zu heiraten, den sie liebt, und nicht jemanden, der auf ihr Vermögen aus ist.«
Sie hatte ihm eine günstige Gelegenheit gegeben, die er nicht ungenützt vorübergehen lassen wollte.
»Aber wie können Leute hinter ihrem Vermögen her sein? Es weiß doch überhaupt niemand, ob sie Geld hat.« »Ich weiß es.«
»Vielleicht sind es ein paar tausend Pfund«, sagte er aufs Gerate wohl. »Aber das würde doch kaum einen Mitgiftjäger reizen.« »Es ist gleich, ob sie viel oder wenig hat. Sie wird den rechten Mann heiraten«, erklärte Mrs. Carawood kategorisch. »Ich glaube, ich habe Ihnen das auch schon in Ascot gesagt, Mr. Lester. Der rechte Mann, der sie schätzt und liebt, will nicht genau wissen, wieviel Vermögen sie geerbt hat. Und jetzt habe ich keine Zeit mehr. Sie müssen mich entschuldigen...«
Mit diesen Worten verabschiedete sie sich von Julian, der darüber nicht unzufrieden war.
16
Es war nicht leicht, mit Mrs. Carawood zu verhandeln. Sie nahm keine Geschenke oder Gefälligkeiten an; sie führte ihr Geschäft rücksichtslos und stand bei den Grossisten Londons in dem Ruf, gute kaufmännische Begabung zu besitzen.
»Ist Mr. Fenner gegangen?« fragte sie, als Julian verschwunden war. »Nein, der ist noch unten im Hof und arbeitet an der Tür.« »Um Gottes willen! Er hat ja soviel Zeit dazu
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