0963 - Wächter der Blauen Stadt
»Ich hätte nicht gedacht, dass du so viel Energie besitzt.«
Die Göre hob den Kopf und blickte ihren Gegner von unten an. Wenn er in dieser Art sprach, konnte es nicht mehr lange dauern, bis er zuschlug. Er wollte sie nur einlullen. Dieses Gebaren kannte sie von ihrem Vater. Auch Vassago hatte mit Zuckerbrot und Peitsche gearbeitet. Eigentlich eher mit Letzterem.
»Übrigens, was hast du da gerade weggeworfen?«, erkundigte sich Kronntarr im freundlichsten Tonfall - falls man das bei einer Bassstimme überhaupt sagen konnte. Auf jeden Fall gab er sich die größte Mühe, einigermaßen freundlich zu erscheinen.
»Das sind Überreste der Menschen, die einst hier starben«, antwortete sie.
Kronntarr trat näher, bis er nur noch wenige Meter von ihr entfernt stand. Seine mächtigen ledrigen Schwingen konnten sie fast berühren. Kassandra besaß keine Schwingen. Wahrscheinlich würde es noch einige Jahre dauern, bis sie wuchsen.
Falls sie die nächsten Minuten überlebte…
Der will mich doch nur ablenken und dann fertigmachen , durchfuhr es sie.
Kronntarr hob die Hand und zeigte auf den kleinen Hügel mit den bunten Kristallen. Einer der eiskalten Steine flog in die geöffnete Hand.
Der strenge Ausdruck seiner Augen veränderte sich. Kronntarr blickte auf einmal verwundert drein, während sich die Energie in ihn entlud. Das hatte er nicht erwartet. Ihm war klar gewesen, dass die Kraft der Kristalle auf denjenigen überging, der sie entlud. Aber dass es so viel Energie war, hatte er nicht gewusst.
Kassandra wich einen Meter zurück, die Augen fest auf ihr Gegenüber gerichtet. Sie sank auf die Knie und begrub die meisten Kristalle unter sich. Augenblicklich ging die Energie auf die Göre über und lud sie auf.
Kronntarr hob die Hand und ließ mehrere Blitze auf Kassandra herabregnen. Sie hob beide Hände und wehrte die für Menschen tödliche Energie ab, als wäre es ein Softball, der geworfen wurde. Sie lenkte die Blitze auf den Verursacher zurück.
»Verreck doch, du Mistkerl!«, stieß sie unbeherrscht hervor. Die Dämonengöre trat einen Schritt zurück. Sie kniff die Augen zusammen, bis nur noch Schlitze zu sehen waren. An ihren Schläfenadern war deutlich zu erkennen, wie das schwarze Blut pulsierte.
Mit einem Mal fühlte sie sich emporgehoben und zur Seite geschleudert. Kronntarr warf sich auf die Kristalle.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, sagte Kassandra und stieß die Luft aus. »Bei allen stinkenden Erzengeln!«
Sie schleuderte ihrerseits ein magisches Netz auf ihn, doch bevor es Kronntarr umschlingen konnte, sank es zu Boden und brannte ein tiefes Loch in den Schnee.
»Vassago hat dir in der Zwischenzeit viel beigebracht«, bemerkte der Dämonenmischling anerkennend. »Ich hätte nicht gedacht, dass du schon so weit bist. Aber ich kann dich gerne noch einmal mit der Zunge am Boden befestigen. Erinnerst du dich noch daran?«
In Kassandra zog sich alles zusammen, als sie an die unrühmliche Szene von damals dachte. Nie zuvor oder danach hatte sie sich so geschämt wie an diesem Tag.
Der Kampf verlagerte sich etwas zur Seite hin, genau dort, wo sich das ehemalige Camp der Wissenschaftler und Archäologen befunden hatte.
Es handelte sich dabei um fünf »Iglus«, eine Art Thermozelt mit erstklassiger Isolierung. Sie wurden mit Pressluft aufgeblasen und besaßen so etwas wie eine Schleuse, damit die Innenwärme nicht bei jedem Öffnen des Eingangs sofort entwich. Ein Dieselgenerator, der natürlich schon seit den damaligen Vorkommnissen nicht mehr lief, lieferte im Idealfall den Strom für die fünf Unterkünfte, die in einer Reihe nebeneinander aufgebaut wurden.
In einem dieser Iglus befand sich die Funkanlage. Auch sie lief seit Jahren nicht mehr, aus Mangel an Energie.
Kronntarrs nächster Blitz verfehlte Kassandra und traf die Iglus, steckte sie aber dennoch nicht in Brand. Der übernächste Blitz streifte die Funkanlage. War es die Magie, die dem Funken innewohnte? Schaltete sich der Sender deshalb ein und sandte ein Signal ab?
Auf jeden Fall bekam der Empfänger Nachricht, dass etwas in diesem Bereich der Erde nicht stimmte. Der Empfänger befand sich in El Paso, im Bundesstaat Texas und hieß Robert Tendyke…
Kassandra zog es vor zu verschwinden. Vielleicht konnte sie in der Blauen Stadt, die unterhalb dieses Gebiets lag, vor Kronntarr entkommen?
Sie ließ sich einfach in den Boden versinken. Bevor der Dämon eingreifen konnte, war sie schon verschwunden.
Kronntarr überlegte
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