0964 - Blutfehde
vergeblichen Wartens hob Valerie die Tasche wieder auf und setzte sich in Bewegung. Nachdenklich spazierte sie in Richtung der nächsten größeren Kreuzung, wo sie erneut haltmachte.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah sie eine Gruppe halbstarker Koreaner, die vor einem Lokal standen und sich lautstark unterhielten. Offenbar hatten die Jugendlichen schon gehörig dem Alkohol zugesprochen. Als sie die junge Rothaarige erblickten, pfiff einer von ihnen durch die Zähne und griff sich provozierend in den Schritt.
Valerie lächelte beiläufig. Angst hatte sie nicht. Sie wusste sich ihrer Haut durchaus zu wehren und sollte es jemand wagen, ihr zu nahe zu treten, würde er sein blaues Wunder erleben.
Nichtsdestotrotz war ihr etwas unbehaglich zumute. Schon seit sie das Haus verlassen hatte, fühlte sie sich beobachtet, und als sie nun weiterging, sah sich Valerie immer wieder nach allen Seiten um.
Die junge Frau atmete auf, als sie einen Moment darauf endlich ein Taxi um die Ecke biegen sah. Wer immer sie auch belauerte, sie hatte keine große Lust auf Scherereien. Hastig streckte Valerie den Arm aus und winkte dem Fahrer zu. Tatsächlich steuerte dieser gleich darauf den Straßenrand an.
»Wo soll's hingehen, Lady?«, fragte der brummig aussehende Fahrer nicht unfreundlich, als sie mit ihrer Tasche auf dem Rücksitz Platz genommen hatte. Er schickte ein knorriges Lächeln in den Rückspiegel und rückte sich seine Mütze zurecht.
»Eastwood Railway Station«, antwortete Valerie. Von dort aus fuhr ein Intercity geradewegs nach Newcastle.
Eastwood Station lag nur ein paar Straßenzüge entfernt, nahe des örtlichen Einkaufszentrums. Eine große Entfernung hatte der Fahrer also nicht zurückzulegen. Nichtsdestotrotz nickte er freundlich und setzte den Wagen wieder in Bewegung. Als er sie schließlich einige Minuten später wie gewünscht am Bahnhof absetzte, ließ sie sich nicht lumpen und gab ein großzügiges Trinkgeld.
Valerie wandte sich dem Bahnhofsgebäude zu. Nach kurzem Zögern machte sie sich auf den Weg zum Schalter, um ein Ticket nach Newcastle zu lösen. Als sie die Dollarscheine auf den Tresen blätterte, wusste sie endgültig, nun gab es kein Zurück mehr.
Kurz darauf saß sie endlich im Zug und raste durch die Dämmerung ihrem Ziel entgegen. Noch einmal dachte sie wehmütig an Paul, dann verdrängte sie sein Bild schweren Herzens aus ihren Gedanken.
Valerie fragte sich, wie ihr Vater wohl reagieren würde, wenn sie nach all den Jahren plötzlich bei ihm aufkreuzte. Sie wusste nur allzu gut, dass er manchmal ganz schön aus der Haut fahren konnte. Die Wildheit lag ihrer Familie im Blut. Valerie selbst bildete da keine Ausnahme.
Valerie lächelte unmerklich. Sie lehnte ihren Kopf gegen die Fensterscheibe des Abteils und blickte hinaus in die Nacht. Bereits nach kurzer Zeit nahm sie ihre Umgebung nicht mehr wahr und versank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
***
John Gillinghams Miene verzog sich zu einem gespenstisch wirkenden Lächeln. Er stand am Panoramafenster seines Büros, das sich im 22. Stockwerk eines Wolkenkratzers in der Innenstadt von Newcastle befand. Dieser beherbergte auch die Räume seines Kabelsenders. Schnell hatte sich daher der Name Gillingham Tower für das Gebäude eingebürgert.
Lächelnd ließ der untersetzte Mittvierziger seinen Blick über das nächtliche Stadtpanorama schweigen.
Meine Stadt , dachte er, denn bald schon würde all das hier ihm gehören, da war er sich ganz sicher. Zunächst jedoch musste er LaGrange und seine hündische Sippe aus dem Weg räumen.
Geistesabwesend nippte Gillingham an seinem Bourbon. Die Eiswürfel im Glas klirrten leise und brachen so die gespenstische Stille. Er verdrängte die Gedanken an LaGrange und seinen kleinen Clan. Zunächst hatte er einmal Dringlicheres zu tun. Er musste die Anrufung durchführen!
Mit einem Ruck stellte Gillingham das Glas wieder ab und begab sich ins Zentrum des Raums. Hier ließ er sich auf den Knien nieder. Die Hände des Werwolfs gestikulierten, während er gleichzeitig Worte in einer uralten, längst vergessenen Sprache murmeln begann.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sich ein grünlich schimmerndes, magisches Projektionsfeld im Raum materialisierte. Gespenstische Schwärze war darin zu sehen.
Gillingham verzog das Gesicht. Im Grunde hatte er nichts anderes erwartet.
Normalerweise hätte ihm die Beschwörung einen direkten Draht zu Larkahn eröffnen müssen. Dieser war der derzeitige
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