0964 - Blutfehde
London passiert ist! Die ganze Welt scheint kopf zustehen. Fakt ist, der Mann hat massive finanzielle Probleme.«
Nicole schaltete sich ins Gespräch ein. »Und nun dreht ihm jemand den Geldhahn zu. Scheint, als hätte ihn jemand auf dem Kieker.«
Zamorra warf ihr einen Seitenblick zu. Er selbst hätte sich nicht ganz so flapsig ausgedrückt, aber Nicole hatte natürlich recht. Er überlegte. Vor fünfeinhalb Jahren war LaGrange schon einmal mit Werwölfen aneinandergeraten. Der alte Patriarch hatte versucht, die Para-Fähigkeiten seines Clans durch ein magisches Experiment zu steigern, was jedoch gründlich schiefgegangen war. Eine Werwölfin hatte ihm damals einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Der Dämonenjäger blickte in die Runde. »Wir sollten uns so schnell wie möglich mit ihm unterhalten«, entschied er. »Mir scheint LaGrange auch nicht der Mann zu sein, der eine wilde Mordserie startet. Irgendetwas geht hier vor und wir werden dem Ganzen auf die Spur kommen!«
***
Harry Groom betrachtete den nackten Körper des Mädchens mit schwärmerischem Blick. Kühl und bleich lag es auf der Bahre, die Augen fest geschlossen und sich seines Beobachters nicht bewusst. Das kalte Neonlicht ließ seine Haut grau und fahl wirken. Das Mädchen war tot.
Harry gab sich einen Ruck, durchquerte den Raum und nahm dann neben der Bahre Aufstellung. Er zögerte ein wenig, streckte aber dann doch die Hand aus und ließ seine Finger über den straffen, flachen Bauch der Toten gleiten. Ein Funkeln war in seine Augen getreten.
Ein echter Leckerbissen , dachte er, heute scheint mein Glückstag zu sein!
Harry Groom war kein stattlicher Mann. Mit seinen knapp einssechzig neigte das weibliche Geschlecht gerne dazu, ihn schlichtweg zu übersehen. Dieses Exemplar jedenfalls würde ihm nicht mehr davonlaufen.
Grinsend strich sich Harry eine fettige Haarsträhne aus der Stirn. Seine grobporige Haut wirkte teigig im grellen Kunstlicht. Allerdings machte der kleine Mann auch bei Sonnenschein keinen allzu bestechenden Eindruck. Seine Welt war die Finsternis. Wenn die Kinder der Nacht durch die Straßen Newcastles streiften, dann fühlte er sich am wohlsten.
Harry kicherte leise. Es war eine hervorragende Idee von ihm gewesen, sich Zugang zu den Geschäftsräumen des örtlichen Leichenbestatters zu verschaffen. Nie hätte er sich träumen lassen, hier auf ein solches Filetstück zu stoßen. Ihr Körper, das wusste er, würde ihn tagelang sättigen.
Da er sich unbeobachtet glaubte, beschloss Harry, seine menschliche Tarnung fallen zu lassen. Der teigige Eindruck seiner Haut verstärkte sich. Das Gewebe schien sich blitzartig zu verflüssigen. Innerhalb weniger Momente war von dem kleinen Mann nichts mehr übrig geblieben, was noch an einen Menschen erinnerte. An seiner Stelle befand sich nun eine schleimige Gestalt, deren rot glühende Augen immer noch gierig auf dem Leichnam des Mädchens ruhten. Inmitten seines formlosen, feucht schillernden Kopfes befand sich das gierig aufgerissene Maul. Rasiermesserscharfe Zahnreihen waren dahin zu erkennen.
Harry Groom leckte sich voller Vorfreude über die wulstigen Lippen.
Da weiß man gar nicht, wo man zuerst reinbeißen soll , dachte er schwärmerisch.
Harry war ein Ghoul, ein unheimliches Geschöpf, das sich von menschlichen Leichen ernährte. Wesen seiner Art hausten oft auf Friedhöfen oder im Dunstkreis von Bestattungsunternehmen. In der dämonischen Hierarchie waren sie ganz unten angesiedelt. Niemand wollte etwas mit den schleimigen Leichenfressern zu tun haben, außer wenn es sich nicht vermeiden ließ. Und das war öfter der Fall, als man dachte, denn Ghoule waren vielseitig interessiert. Sie waren dafür bekannt, stets darüber auf dem Laufenden zu sein, was um sie herum vorging. Eben das machte sie zu begehrten Informanten.
Auch Harry hatte stets ein offenes Ohr dafür, was sich um ihn herum abspielte. Im Moment waren seine Gedanken allerdings ausschließlich auf den vor ihm liegenden Leckerbissen konzentriert.
Noch einmal beglückwünschte er sich selbst. In die Räumlichkeiten des Bestattungsunternehmens einzubrechen, war eine seiner besten Ideen seit Langem gewesen. Sein nagender Hunger hatte ihn dazu getrieben, doch nun, da sich das Festmahl in greifbarer Nähe befand, zögerte er. Der kalte Körper wollte ihm fast zu schön erscheinen, um wie ein Tier darüber herzufallen.
Harry riss sich zusammen. Noch einmal streichelte er sanft über die bleiche Haut, dann fletschte
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