0973 - Das verfluchte Volk
gehört.
Dem Vernehmen nach lebte Rovira immer noch in seiner Villa im wohlhabenden Viertel Usaquén im Norden der Stadt, aber das war eine reine Vermutung, denn der Ethnologe hatte konsequent alle Verbindungen zu seinem früheren Leben abgebrochen. Er publizierte nicht mehr, empfing keinen Besuch und reagierte auf keine Einladung.
Doch immerhin hatte er einen Telefonanschluss. Zwar mit Geheimnummer, doch die war, Raúl sei Dank, kein Problem mehr. Jetzt musste nur noch jemand am anderen Ende der Leitung drangehen.
Paula drückte die Zigarette aus und wählte die Nummer. Es klingelte unendlich lange, doch niemand hob ab, kein Anrufbeantworter sprang an. Sie wollte schon frustriert auflegen, als am anderen Ende der Hörer erkennbar ruppig von der Gabel gerissen wurde.
»Ja?«, fragte jemand barsch.
Eine Frau, registrierte Paula überrascht. Mittleren Alters. Ihren Recherchen zufolge war Rovira nicht verheiratet. Die Haushälterin? Eine Freundin?
»Guten Abend, mein Name ist Paula Vásquez. Ist Herr Professor Rovira zu sprechen?« Sei höflich. Nimm ihr den Wind aus den Segeln …
»Nein!«
»Verstehe. Und wann könnte ich…«
»Gar nicht! Rufen Sie nicht wieder an!«
»Warten Sie«, sagte Paula. »Ich bin Reporterin und arbeite für La Voz. Vielleicht könnten Sie dem Herrn Professor…«
Doch es war zu spät. Ihre Gesprächspartnerin hatte bereits aufgelegt. Paula zischte ein Schimpfwort, das selbst für ihre nicht gerade empfindsamen Ohren ordinär klang, und zündete sich eine weitere Zigarette an. Sollte es das mit ihrem kleinen Nebenprojekt schon gewesen sein? Sie hatte nur diese eine, sehr vage Spur, und die hatte sich gerade als Sackgasse erwiesen.
Paula nahm einen tiefen Zug, dann drückte sie die Zigarette entschlossen aus.
Nein, sie war Paula Vásquez. Und die gab nicht so schnell auf.
***
Das kleine, namenlose Dorf am Rande des militärischen Sperrgebiets bestand gerade mal aus ein paar wackeligen Wellblechhütten an einer ungepflasterten Piste. Die Männer und Frauen verdienten sich ihren kargen Lebensunterhalt auf Don Antonios Zuckerplantagen. Es war eine harte, schlecht bezahlte Arbeit, aber sie sicherte zumindest das Überleben.
Der Tag begann für die meisten Bewohner weit vor Sonnenaufgang.
Deshalb war niemand mehr wach, als gegen zwei Uhr das Motorgeräusch von zwei Pick-up-Trucks die nächtliche Stille zerriss. Mit quietschenden Reifen kamen die beiden Fahrzeuge auf dem schmucklosen Dorfplatz zum Stehen. Sofort sprangen vermummte, schwer bewaffnete Gestalten von den Ladeflächen und durchkämmten die Hütten. Die Gegenwehr war gering, als die Männer die Bewohner aus den Betten holten und auf dem Platz zusammentrieben. Wer aufbegehrte, schrie oder weinte, wurde mit einem Gewehrkolben schnell zur Raison gebracht.
Die Dorfbewohner wussten, dass Don Antonio öfter Strafkommandos losschickte, um Gewerkschafter oder aufmüpfige Arbeiter zu suchen. Doch die Bewohner hatten ein reines Gewissen. Niemand von ihnen hatte gegen den mächtigen Patriarchen aufbegehrt oder einen Flüchtigen versteckt. Sobald die Bewaffneten das Dorf durchsucht hatten, würden sie weiterziehen, und das Leben würde weitergehen wie bisher. So war es schließlich immer.
Aber nicht heute.
Der Anführer der Kommandos war ein unheimlicher Mann in einer mit Brandflecken übersäten Armeeuniform, der sich eine der Hütten zurückzog. Entsetzt sahen die Dorfbewohner zu, wie von ihnen einer nach dem anderen in die Hütte gezerrt wurde. Jedes Mal drang nach wenigen Minuten ein entsetzlicher Schrei nach draußen. Anschließend wurden die Abgeführten zu den anderen zurückgebracht. Sie waren totenbleich, zitterten und waren unfähig zu sprechen. So ging es immer weiter, bis jeder Dorfbewohner einmal in der Hütte gewesen war. Alle wurden danach wieder zum Platz geführt.
Bis auf zwei.
Ein 35-jähriger Witwer und seine zwölfjährige Tochter wurden gefesselt und von den Bewaffneten auf die Ladefläche eines Pick-ups gestoßen. Dann stiegen die Männer selbst auf und die Fahrzeuge preschten davon.
Das Leben im Dorf ging weiter. So war es schließlich immer.
***
Tagebuch von Friedrich Dörfler,
5. Oktober 1801
Mit einem wurmstichigen Boot fahren wir den Rio Caquetá hinauf. Ich mache drei Kreuze, wenn der alte Kahn nicht absäuft, bevor wir unser Ziel erreicht haben.
Die Moskitos fressen uns bei lebendigem Leibe. Die Männer verbringen ihre Zeit damit, Karten zu spielen und billigen Fusel in sich hineinzuschütten.
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