0975 - Burning Man
höllisch scharf war.
»Dies ist das Messer, mit dem das Blut hervorgebracht werden muss.« Er reichte es ihr, und sie nahm es zögerlich entgegen.
Der alte Mann griff unterdessen wieder in seine Kiste, und Nicole konnte nicht anders, als an eine gruselige Variante dieser Szene in Mary Poppins zu denken, in der die Titelheldin alle möglichen Einrichtungsgegenstände aus ihrer Handtasche zog. Dieses Mal präsentierte er ihr einen kleinen ausgebleichten Vogelschädel; der Größe nach zu urteilen, stammte er von einem Raben. Die großen Augenhöhlen waren mit hartem trockenem Lehm verklebt, sodass man ihn als Gefäß benutzen konnte. »Und hier muss es hineingefüllt werden. Der Totenvogel soll der Bewahrer des Lebens sein.«
Nicole nahm auch den Schädel und steckte ihn vorsichtig in ihre Tasche. »Also gut, wo finde ich diesen De Luca?«
»In seinem Penthouse. Er musste das Casino wie alle anderen verlassen. Seitdem befindet er sich dort.« Diesmal nannte er ihr die Adresse, anstatt sie ihr schriftlich zu geben.
Ich will gar nicht wissen, woher er das nun wieder weiß, dachte Nicole. Sie nickte, drehte sich um und machte sich auf den Weg.
Zwischenspiel: Bring mir das Blut von De Luca!
Silvio De Luca saß am Schreibtisch in seinem abgedunkelten Büro und zitterte am ganzen Leib. Der Raum lag in Schatten und wirkte dadurch größer, als er eigentlich war. Die Konturen waren undeutlich, die Ecken schwarze Löcher, die in die Unendlichkeit zu führen schienen. Die Schatten schluckten sämtliche Farben. Pflanzen, Bilder und Fotografien -darunter Originale großer Künstler und Aufnahmen bekannter Persönlichkeiten im Casino -, die dem Raum eine freundliche Atmosphäre geben sollten, wirkten grau und verschwammen mit dem Hintergrund. De Luca hätte zum Fenster gehen und die Jalousien hochziehen können. Die Sonne wartete nur darauf, den Raum zu fluten und die Schatten zu vertreiben. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Die Dunkelheit erschien ihm notwendig und angemessen. So bedrohlich die Schatten auch wirkten, boten sie doch gleichzeitig Schutz.
De Luca streckte eine Hand nach dem Glas Scotch aus, das vor ihm stand, doch sie zitterte so sehr, dass er mehrere Versuche brauchte, um es anzuheben. Die Beruhigungsmittel, die ihm der Arzt verschrieben hatte, wirkten nicht. Sie benebelten zwar seinen Geist, vertrieben aber die innere Unruhe nicht. Er hatte seit dem Vorfall nicht geschlafen. Warum musste ausgerechnet ihm so etwas passieren? Alles, was er gewollt hatte, war, seine Geschäfte wieder zum Laufen zu bringen. War das etwa zu viel verlangt?
Die Zeiten waren schlecht. Heutzutage konnte man mit dem Glücksspielgeschäft nicht mehr reich werden. Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Immobilienkrise. Es war, als hätte sich die Welt gegen ihn verschworen. Die Leute kümmerten sich nur noch um den Umweltschutz und versuchten, die globale Erwärmung zu stoppen. Das einfache, reine Vergnügen des Glücksspiels war fast in Vergessenheit geraten. Sicher, es gab immer noch einige Spieler, aber das war kein Vergleich zu den guten alten Zeiten. Damals, als die Cosa Nostra hier noch das Sagen gehabt hatte, war alles in Ordnung gewesen. Die Mafia hatte Vegas erst zu dem gemacht, was es war. Sie hatte der Stadt ihre Seele gegeben. Vorher war sie nur ein armseliges Kaff mitten in der Wüste gewesen. Das Geld der Mafia hatte sie groß gemacht. Hotels und Casinos entstanden, die Touristen kamen in Scharen, und das Geld floss in Strömen. Die Cosa Nostra nahm alle Hürden und blieb an der Macht. Sie ließ sich nicht vertreiben.
De Luca hatte das Glück gehabt, einen Teil dieser Zeit noch miterleben zu dürfen. Doch er musste auch mit ansehen, wie sie endete. Als das FBI in den Achtzigern einen Großangriff gegen die Mafia in Vegas startete, schien alles vorbei zu sein. Er war damals noch ein junger Mann gewesen und hatte das Indian Spirit Casino gerade von seinem Vater übernommen. Ein glücklicher Umstand sorgte allerdings dafür, dass man ihm seine Verbindung zur Mafia nicht nachweisen konnte, daher durfte er sein Casino behalten. Doch von da an ging es bergab. Vegas wurde von einer riesigen Spielhölle zu einem Vergnügungspark. Die Stadt der Sünde wurde bekehrt. Zuerst ließ sich damit noch Geld machen, sofern man bereit war, auf der neuen, familienfreundlichen Schiene zu fahren. Die alten Werte gerieten schnell in Vergessenheit. Die Zugehörigkeit zur Mafia brachte einem keine Vorteile mehr, sondern machte einen plötzlich zur
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