0975 - Burning Man
Besitz hatten sie zurückgelassen. Nur das, was nicht lebte.
Und sie.
»L- Lenny? Wo sind denn alle?«
Es entsetzte sie selbst, wie schwach ihre Stimme klang. Das war nicht mehr die Stimme einer erwachsen werdenden Frau, die endlich ihre eigenen Entscheidungen traf. So klangen höchstens kleine Mädchen, wenn sie sich aus Angst vor dem Monster im Schrank unter dem Bett versteckten, bis Daddy kam.
Ihr Bruder schnaufte leise. »Keine Ahnung, Cass.«
»Aber… Aber du weißt doch sonst so viel«, sprach der kindliche Trotz aus ihr, der keine Rationalität akzeptierte. »Wa-warum weißt du das jetzt nicht?«
»Ich bin im Matheclub unserer High School, Cassie, und kein Hellseher.« Auch Lenny sprach gedämpft, als fürchte er, mit einem lauten Geräusch irgendetwas aufzuschrecken, das in den Schatten oder den verlassenen Unterkünften warten mochte. »Vierzigtausend Leute, und von einem Moment auf den nächsten ist keiner mehr da. Das ist absolut unmöglich.«
Trotz oder gerade wegen ihrer absurden Lage musste Cassie lachen. »Du kannst dich ja gern bei der Dunkelheit beschweren. Vielleicht hört sie auf deine Argumente.«
Im Licht der kleinen Lampe sah sie Lenny den Kopf schütteln. »Mhm, ich weiß da was Besseres. Wir müssen nur dorthin gelangen.«
Es war absurd. Eben noch hatte sie mit Callum, Steph und Marc ums Lagerfeuer gesessen, gekifft und sich auf den Abend gefreut, an dem sie es endlich mit Marc tun würde - und dann war es auf einmal dunkel geworden. Sie hatte sich umgesehen, doch ihre Begleiter waren nicht mehr zu finden gewesen. Fast, als hätte es sie nie gegeben.
Cass hatte geschrien, gerufen, sogar gezetert. Ohne Reaktion. Black Rock City hatte ihre Panik einfach an sich abprallen lassen. Selbst via Handy hatte sie niemanden erreicht. Das Netz war genauso verschwunden wie die Menschen. Just als sie vor lauter Angst den Verstand zu verlieren gedroht hatte, war Lenny - ausgerechnet Lenny - um die Ecke gebogen gekommen und hatte sie mitgenommen. Einen Mann suchen.
»Wie hieß der Typ noch mal?«, fragte sie ihn nun. Sie ging ganz dicht hinter ihm, presste sich ihm regelrecht an den Rücken, damit er sie auch ja nicht verlor. »Der, den du finden willst?«
»Zamorra. Er ist… Na, ist ja auch egal. Jedenfalls hat man ihn eingebuchtet, und ich glaube, er weiß, was hier passiert ist. Ich glaube sogar, er kann es rückgängig machen. Zumindest wüsste ich niemanden, der es sonst könnte.«
Es. Was genau war »es« denn? Wie definierte man, was sich jedem Verständnis entzog?
»Können wir nicht Dad rufen?«
Lenny blieb stehen, drehte sich um und leuchtete dicht an ihrem Gesicht vorbei, damit sie ihn sah, er sie aber nicht blendete. »Cass, es gibt keinen Dad mehr. Es gibt niemanden mehr. Glaub ich wenigstens. Nur noch uns. Und, hoffe ich, Zamorra.«
Just in diesem Moment explodierte keine zwei Zentimeter neben ihrem nackten rechten Fuß der Wüstenboden!
»Waaaaaaaahhü«, schrie eine Männerstimme in der Schwärze.
Bevor Cass begriff, was geschah, hatte Lenny sich schon auf sie gestürzt und sie zur Seite gerissen. »Duck dich! Da schießt einer.«
Was? Der Gedanke war so bescheuert, dass Cass ihn erst vollends verinnerlicht hatte, als abermals dicht in ihrer Nähe eine Kugel gegen etwas prallte. Nun hörte sie die Schüsse auch.
»Raus da!«, brüllte die Stimme. Der Mann mochte zehn Meter entfernt sein, vielleicht weniger. »Hände hoch und sofort raus. Keine Tricks, klar? Ich seh euch Scheißer!«
Cass spürte, wie Lenny, der die Taschenlampe ausgemacht hatte, nun ihren Arm losließ. Lenny, nein!
Zu spät. Er war aufgestanden. »In Ordnung, Mister. Nicht schießen. Wir sind unbewaffnet und so ratlos wie Sie.«
Schweigen. Dann ging vor ihnen ein Licht an, raubte ihnen die Sicht.
»Und was ist mit dem anderen Typen?«, forderte die Stimme.
»Steh auf, Cass«, raunte Lenny.
Sie schüttelte den Kopf.
»Steh auf, oder seine nächste Kugel trifft.«
Sie schluckte. Tränen stiegen in ihr auf, schnürten ihre Kehle zu. Das… das war alles viel zu viel. Sie war hergekommen, um Spaß mit ihren Freunden zu haben. Um endlich mit Marc zu schlafen, wovon sie schon seit zwei Wochen träumte. Um sich fern von ihrem Dad endlich wie die Frau verhalten zu können, die sie ihrer Meinung nach längst war. Nicht länger ein Teenager.
Und nun? Nun war die Welt untergegangen, und sie saß mit nichts außer einem Bikini und einem Höschen bekleidet in einer Geisterstadt, wo Unbekannte in den Schatten
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