0975 - Die zweite Welle
waren es diese beiden Probleme gewesen, die ihn beschäftigten: Erstens wollte er dazu beitragen, die Menschheit zu retten; zweitens mußte er mit sich selbst ins reine kommen.
Vom Gefühl her neigte er dazu, die zweite Aufgabe für die wichtigere zu halten, während sein Verstand ihm das Gegenteil riet. Das führte zu einem inneren Zwiespalt, der sich noch verschlimmerte, als in immer schnellerer Folge Gedanken und Ideen in seinem Gehirn auftauchten, die er nicht als sein geistiges Eigentum anerkennen mochte.
Seit einiger Zeit hatte er gespürt, wie ihm fremdes Wissen zufloß, zuerst langsam, dann immer schneller und heftiger. Vor einigen Tagen war es besonders schlimm gewesen. Inzwischen meinte er zu spüren, daß nichts mehr in sein Gehirn geschleust wurde, aber seine Probleme waren damit längst nicht behoben. Im Gegenteil: Er stand nun vor der Aufgabe, mit dem, was er unfreiwillig aufgenommen hatte, fertig zu werden. Es war, als versuchte er, sich ohne jede Hilfe in einem völlig fremden Kosmos zu orientieren. Alles, was Jen Salik sich vor diesen Ereignissen an Erkenntnissen erarbeitet hatte, alle Wahrheiten, an die er glaubte, waren von der Flut der neuen Gedanken weggerissen und davongeschwemmt worden. Was blieb, war ein Chaos aus Ideen, die nicht von ihm stammten, von plötzlichem Wissen, von dem er nicht wußte, woher er es bezog, und von Einsichten, die sein Weltbild erschütterten.
Es war zuviel gewesen, was da in ihn hineingepreßt worden war. Er schaffte es nicht, diese Informationen zu erfassen, geschweige denn, sie zu verarbeiten. Er fand keinen ruhenden Pol mehr, weder in seiner eigenen Persönlichkeit, die unter der Last des fremden Wissens zu ersticken drohte, noch in diesem aufgepfropften Wust von Gedanken und Ideen. Jeder Versuch, systematisch vorzugehen und Bilanz zu ziehen, scheiterte an den unberechenbaren Geistesblitzen, denen gegenüber er sich hilflos fühlte.
Manchmal wußte er mit großer Klarheit, daß er die Zusammenhänge schon einmal gekannt hatte. Erst vor kurzer Zeit war ihm alles erklärt worden. Aber er hatte es vergessen. Es gab nichts Schlimmeres als die Suche nach dieser verlorenen Erkenntnis.
Hinzu kam, daß ihm die Welt so schrecklich fremd geworden war. Sobald er seine Augen auf irgend etwas richtete, sah er Probleme und deren Lösungen vor sich. Er hatte das Gefühl, auf nahezu alle Fragen, die ein Mensch überhaupt zu stellen vermochte, eine Antwort zu kennen. Er war ein Genie. Aber er wollte keines sein. Er hatte manchmal nur noch den Wunsch, sich irgendwo zu verkriechen, an einem Ort, an dem er nicht mehr zu hören und zu sehen und auch keine Antworten mehr zu geben brauchte.
Er war auf dem besten Weg dazu, den Verstand zu verlieren.
In diesem Zustand hatte er sich in einen Mietgleiter gesetzt und war davongeflogen, ohne Ziel und feste Absichten. Es war eine Flucht vor dem Wahnsinn, den er in sich wachsen fühlte, ein völlig sinnloses Unternehmen.
Nach einigen Stunden ging es ihm trotzdem ein bißchen besser, und er raffte sich dazu auf, einen Blick nach unten zu werfen.
Er sah einen riesigen See und kahles, unwirtliches Land. Die Automatik verriet ihm, daß es sich bei dem Gewässer um den Titicacasee handelte.
„Gibt es irgendwelche Sehenswürdigkeiten in dieser Gegend?" erkundigte er sich und wußte im selben Augenblick, daß das eine dumme Frage war. Vor seinem inneren Auge erschien eine genaue Landkarte, die er einmal studiert hatte. Mühelos erkannte er die Form der Uferlinie wieder. Er war nur noch eine kurze Strecke von Tiahuanaco entfernt.
Er überlegte, ob er die günstige Gelegenheit nutzen und sich die Ruinen ansehen sollte, entschied sich dann aber dagegen.
Er hätte sich nicht auf die Stadt konzentrieren können, und außerdem war das Wetter wenig geeignet, um lange Spaziergänge zu unternehmen. Die Wolken hingen tief am Himmel, und das Licht war grau. Das Land sah flach und farblos aus in dieser Beleuchtung. Staubfahnen trieben über die schmalen Straßen am Ufer.
„Nimm Kurs nach Norden!" befahl Salik, als der Gleiter über das östliche Ufer hinwegflog.
Er betrachtete das Land, das unter ihm hinwegzog. Überall entdeckte er winzige Dörfer, in denen jedoch niemand mehr zu leben schien. Er ließ den Gleiter tiefer gehen und blickte beklommen auf die zerfallenen Dächer hinab.
„Ich möchte landen", sagte er bei einer solchen Gelegenheit.
Er verließ den Gleiter und untersuchte eines der Häuser. Aus der Nähe sah er, daß es schon sehr
Weitere Kostenlose Bücher