098 - Der Kerkermeister
würde. Doch sie hatte keine. Sie wußte, daß ihr diese Monster nichts tun würden. Wenn Olivaro ihren Tod gewünscht hätte, dann hätte er sie wohl kaum aus der magischen Zeitfalle entlassen.
„Olivaro!" schrie Coco wieder. „Befehle deinen Dienern, daß sie mich in Ruhe lassen! Für solche kindischen Scherze ist jetzt wohl nicht der richtige Zeitpunkt!"
Das vampirartige Geschöpf ließ sie augenblicklich los und zog sich zurück.
„Geh nach rechts, Coco", meldete sich Olivaro. Doch er war nicht zu sehen. „Hinter der weißen Tür wirst du mich finden."
Coco gehorchte. Die Monster verfolgten sie. Ein paar schlugen leicht nach ihr, doch Coco achtete nicht darauf. Ohne sich beirren zu lassen, trat sie durch die Tür, die sich von selbst hinter ihr schloß, Das kleine Zimmer war bis auf zwei Stühle und ein kleines Tischchen leer. Olivaro saß auf einem der Stühle. Er trug einen pechschwarzen Umhang. Für einen kurzen Augenblick sah sie seinen wahren Kopf. Er hatte zwei Gesichter. Das eine Gesicht sah harmlos aus. Es konnte seine Form beliebig verändern. Doch das zweite Gesicht, das er gewöhnlich unter dem Haar versteckt trug, war die Inkarnation des Bösen. Es war grün und knochig, kalt und unmenschlich. Olivaro drehte den Kopf herum. Er zeigte Coco jetzt das harmlose Gesicht. Es wirkte aufgedunsen, gelb und schwammig. „Ich freue mich, daß du meine Einladung, so rasch angenommen hast, Coco", sagte der Dämon spöttisch. „Setz dich. Darf ich dir eine Erfrischung anbieten?"
„Nein, danke", sagte Coco kühl und setzte sich Olivaro gegenüber.
Er blickte sie eine Minute lang starr an. Coco erwiderte ruhig den harten Blick.
„Coco, du wirst Hunter aus dem Spital holen."
„Er ist krank", warf Coco ein.
Olivaro winkte ab. „Unsinn. Er ist nicht krank. Der Einsatz des Ys-Spiegels hat ihn geschwächt. Morgen wird er sich schon viel besser fühlen. Du bringst Dorian in das Reihenhaus in der Abraham Road. Ich werde mich dann mit ihm in Verbindung setzen."
„Was willst du von Dorian?"
„Ich will, daß er sich an seinen Lebensabend als Michele da Mosto erinnert. Nicht mehr." „Weshalb?"
Olivaro antwortete nicht. Er schloß die Augen und schien eingeschlafen zu sein.
Das kann kein Zufall sein, dachte Coco. Daß Olivaro gerade darüber etwas wissen will… Dorian hätte heute von seiner Existenz als Michele da Mosto gesprochen.
„Hast du Dorian zu beeinflussen versucht?" fragte Coco. .
Der Dämon öffnete die Augen und lächelte amüsiert. „Natürlich", antwortete er. „Doch die Ausstrahlung des Spiegels und der Dämonenbanner behinderten mich. Dorian hatte Alpträume, und er sprach von seinem Freund Franca Marzi und von O-Yuki. Er hat ein Geheimnis, dein Dorian. Er verdrängt die Erinnerung an seinen Lebensabend. Und es ist jetzt besonders wichtig, daß er sich wieder daran erinnert. Ich will ihm dabei helfen."
„Und weshalb willst du das tun?"
„Ich habe meine Gründe", sagte Olivaro ausweichend. „Ich will dir und Hunter helfen. Frage mich nicht, aus welchen Gründen. Ich gebe dir darauf keine Antwort. Nur so viel: Ich schätze Luguri nicht, und auch Hunters Suche nach Hermes Trismegistos gefällt mir nicht. Hunter will sich von dir trennen, Coco. Das willst du aber nicht. Du siehst, wir haben wieder einmal gemeinsame Interessen."
„Ich traue dir nicht, Olivaro."
„Das ist dein gutes Recht. Ich verlange nur eines von dir: Ich will mit Hunter ungestört im Reihenhaus sprechen. Dazu ist es nicht einmal nötig, daß ich persönlich hingehe. Die Ausstrahlung des Ys- Spiegels bekommt mir nämlich nicht. Von Luguri droht im Augenblick keine Gefahr. Er ist mit einer anderen Angelegenheit beschäftigt."
„Ich verstehe nicht, was so wichtig an Dorians Lebensabend als Michele da Mosto ist."
„Das wirst du bald merken, Coco. Hast du vielleicht Angst, einen dunklen Fleck auf der makellosen Seele deines Gefährten zu entdecken?"
„Nein, das nicht."
„Und weshalb verdrängt er dann seine Erinnerung daran?"
„Er verdrängt sie ja nicht!" sagte Coco heftig. „Er hat mir erzählt, daß er zusammen mit O-Yuki bis 1610 gelebt hat. Dann starb er."
Olivaro lachte laut auf. „Laß dich überraschen, Coco. Du wirst dich wundern." Der Dämon stand auf. „Geh jetzt. Morgen bringst du Dorian in die Abraham Road. Keine Widerrede."
„Ich werde dir gehorchen", sagte Coco. „Aber ich werde es Dorian erzählen."
„Das wirst du bleibenlassen, Coco!" meinte Olivaro scharf. „Kein Wort zu ihm!
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