0985 - Libertys Tränen
waren. Sie deuteten an, dass es Ihnen bei unserer Entführung eigentlich um Nie… Miss Duval gegangen sei.«
Bitte gib mir keine Antwort. Oh, bitte, gib mir keine Antwort.
Jennings entsprach ihrem stummen Flehen. Statt etwas zu sagen, stupste er sie nur mit dem Lauf seines Revolvers an. Amy tat, wie er verlangte, und ging weiter.
Es tat gut, endlich wieder die Beine zu bewegen. Er hatte ihr die Fußfesseln gelöst, als er sie eben unten abholte und von Nicole trennte, damit sie selbst gehen konnte. Es tat auch gut, endlich wieder die Welt draußen zu sehen und zu wissen, wo man sich befand.
Jenseits der Fensterscheiben des Historischen Museums ging City Island seinem ganz normalen Alltag nach - mit einer Ausnahme. Direkt vor den Toren dieses altehrwürdigen Gebäudes stand bereits alles für den Festakt bereit, der der Höhepunkt und Startschuss der Zweihundertfünfzig-Jahrfeier sein sollte. Amy sah die große Bühne mit Rednerpult und den festlichen Fahnenschmuck, die leeren Sitzreihen aus weißen Plastikklappstühlen. Schon jetzt parkten die ersten Übertragungswagen der lokalen TV-Journaille an der anderen Straßenseite, wartend auf den großen Moment.
Jennings führte seine Gefangene an diversen Exponaten vorbei, die Auskunft über die Historie der Insel gaben. Ein Raum folgte auf den anderen - und am Ende des Weges stand…
»Ein Spiegel.« Amy schluckte. Eine böse Ahnung machte sich in ihr breit. »D… Das wollten Sie mir zeigen?«
Das Ding war mindestens so alt wie klobig, ein schrankgroßes Ungetüm aus Holz, Schnitzereien und einer ovalen Spiegelfläche. Amy sah Verzierungen, die Episoden aus New Yorks Gründungszeit abbildeten, und zentral oberhalb des Ovals prangte ein funkelnder Edelstein.
»Sie wollten wissen, worum es geht«, sagte Jennings im Tonfall tiefster Resignation. »Sie und Ihre Begleiterin. Sie wollten erfahren, was überhaupt geschieht.«
Amy sah von ihm zum Spiegel und zurück. Irrte sie sich, oder begann das Juwel plötzlich zu leuchten?
»Wenn Sie das noch immer wissen möchten, Officer, dann schauen Sie jetzt da hinein.«
Amys Blick folgte Jennings’ ausgestrecktem Arm. Polizeiliche Neugierde und ganz und gar menschliche Angst kämpften in ihrem Inneren um die Vorherrschaft, doch als nun abermals der Spiegel in ihr Sichtfeld geriet, gewann die Neugierde.
Und wurde zu Entsetzen!
Die Spiegelfläche war nicht länger da. Stattdessen strömte nun blitzschnell ein grünlicher Nebel aus dem Juwel in das Oval und füllte es gänzlich aus. Die Schwaden waberten, verformten sich, und Amy konnte plötzlich an nichts anderes mehr denken, den Blick nicht von dem Schauspiel abwenden. Ihre gesamte Konzentration schien in dem Wogen des Nebels verloren zu gehen.
»Schauen Sie«, drang Lyle Jennings’ traurige Stimme noch an ihr Ohr, wie ein letzter Gruß aus weiter Ferne. »Schauen Sie ganz genau.«
Amy begann zu zittern.
***
... und, siehe, es kommt die Zeit, in der der KAISER LUZIFER verbannt wird aus dieser Welt. Wütend und zornig macht er sich auf, während Tränen der Frustration seine unheiligen Wangen hinab fließen - die Tränen LUZIFERs.
Nicht alle bleiben in Tränenform. Manche adaptieren, nehmen die Form von Dingen aus der Menschenwelt an und entgehen der Entdeckung. Andere vergehen im Zuge, einer kosmischen Katastrophe, die mit des KAISERs »Schöpfungskraft« zusammenhängt - auf Wegen, die du nicht zu verstehen imstande bist.
Und manche dieser anderen… zersplittern.
Oh, diese Splitter. Ihr Gefahrenpotenzial ist nicht zu unterschätzen. Sie mögen unscheinbarer und schwächer als des Satans Tränen sein, doch auch sie bergen Echos seiner Macht - unkontrollierbare, zerstörerische Energie.
Sie warten. An unterschiedlichsten Orten. Und sie nehmen Einfluss auf ihre Umgebung. So ist es seitdem. So soll es bleiben.
Eines Tages aber kommt DER MANN. Er handelt, wo andere nur reagieren. Er bringt Dinge ins Reine, die der Einfluss des Splitters pervertierte. Er stört.
Er stellt sich den Stadtvätern und erreicht einen Waffenstillstand.
Er stoppt den von Splittermacht gestärkten Dämon von Inwood Hill.
Er vertreibt den Leeren Mann von Manhattans geschwächten Realitätsgrenzen.
Er stört.
DER MANN ist der Träne Widersacher, der Neutralisator dessen, was ist und was werden soll. Der, der gewinnt. Nichts kann ihn bislang aufhalten, nichts seinen Siegeszug beenden. Er ist unantastbar, so scheint es zumindest. Aber es wird Zeit, dass auch er lernt, was Niederlage
Weitere Kostenlose Bücher